Samstag, 26. Oktober 2013

Pieper, Tim: Mord unter den Linden

Berlin, im Sommer 1890. Dr. Otto Sanftleben erforscht die Körpersprache von Kriminellen. Als eine junge Handschuhnäherin gekreuzigt und mehrere anarchistische Attentate verübt werden, erklärt er sich bereit, den ermittelnden Commissarius zu unterstützen und zur schnellen Aufklärung beizutragen. Eine geheimnisvolle  Revueschauspielerin gibt den entscheidenden Fingerzeig und weckt tot geglaubte Gefühle in ihm. Zu spät begreift er, dass er in Lebensgefahr schwebt …




Kriminalanthropologische Betrachtungen...

(zuerst veröffentlicht von parden auf Buchgesichter.de am  26.03.2012)






Dr. Otto Sanftleben ist Kriminologe im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts und beschäftigt sich v.a. mit der Körpersprache von Straftätern. Sogar ein Buch hat er zu diesem Thema bereits herausgebracht.
Als er in einem aktuellen Fall gebeten wird, der Polizei unterstützend zur Seite zu stehen, ziert er sich zunächst, doch gleichzeitig erwacht sein Ehrgeiz. Es bleibt jedoch nicht bei dem Fall der jungen gekreuzigten Handschuhnäherin...

 

Mit Tim Piepers erstem historischen Krimi erleben wir sozusagen die Geburtsstunde des modernen Profilings. Allerdings wird dabei schnell deutlich, dass die kriminalanthropologischen Erkenntnisse v.a. auf Beobachtungen und Schlussfolgerungen beruhten. Tim Pieper schrieb hierzu im Rahmen einer Leserunde selbst: "Allgemein war das wissenschaftliche Vorgehen noch nicht so präzise wie heute, was immer wieder ersichtlich wird, wenn in den damaligen Fachpublikationen einfach Behauptungen aufgestellt werden, ohne sie gründlich herzuleiten oder durch Nachweise zu belegen."
Damit sollte diese skizzierte Verbrecherphänomenologie (z.B. lange, spitz zulaufende Nase = listige Persönlichkeit oder steile Stirnfalten = zorniger Mensch) wohl als das gesehen werden, was sie heute tatsächlich ist: eine Kuriosität.

 

Der Roman beinhaltet jedoch noch viel mehr. Schnell wird deutlich, welch eine akribische Recherche Tim Pieper vor dem Schreiben des Buches betrieben haben muss, denn es gelingt ihm, dem Leser durch beiläufiges Einstreuen zahlreicher zeittypischer Details zu Kleidung, Frisur, Rollenverständnis, Mobiliar, Architektur, Garten-/Parkgestaltung, Medizin, Polizeiarbeit, Berufsbezeichnungen, Titel u.v.m die Atmosphäre des Berlins im Jahre 1890 beinahe plastisch vor Augen zu führen. Auch das Verwenden zeitgemäßer Ausdrücke ("schwadronieren", "Billett" oder "Gebaren" seinen hier stellvertretend genannt) trägt zu diesem Effekt bei.
Selbst politische Zusammenhänge in dieser unruhigen Zeit werden von Tim Pieper ausreichend skizziert, um deren Bedeutung für das Geschehen in diesem historischen Krimi herauszustreichen. Das Sozialistengesetz, die Angst der Obrigkeit vor der Arbeiterbewegung, die Interessenskonflikte - all dies spielt in dem verwinkelten Roman ebenfalls eine wichtige Rolle.

 

Ein kleiner Schwachpunkt war dabei für mich die Rolle, die Otto im Rahmen der Ermittlungen einnahm. Ursprünglich als fachkundiger Berater zu Zeugenvernehmungen hinzugezogen, weitete sich das Spektrum seiner Tätigkeiten zusehends aus, mehr oder weniger geduldet von der Polizei. Ein wenig an den berühmten Sherlock Holmes erinnernd, agierte Otto dabei jedoch wesentlich dilletantischer und häufig impulsiv, so dass manchesmal der Gedanke aufkam: "mit mehr Glück als Verstand". Auch wenn es zu Ottos Persönlichkeit passte, waren für mich dadurch manche Szenen eher skurril und amüsant als spannend.
Ein klarer Minuspunkt, den ich hier ebenfalls anmerken muss: der Preis von 11,90 Euro für die gerade mal 271 Seiten, und das bei einem Taschenbuch. Wenn ich nicht bereits ein Buch von Tim Pieper gelesen hätte, wäre das für mich ein klares k.o.-Kriterium gewesen... Auch eine noch so nette Aufmachung (das Cover ist überaus passend gewählt) hätte mich da nicht überzeugen können.

 

Insgesamt habe ich bei dem Buch zwischen 8 und 9 Punkten geschwankt. Da Tim Pieper im Rahmen der Leserunde seine Freude auf einen regen Austausch nicht nur angekündigt, sondern auch überaus wahr gemacht hat, fiel die Entscheidung schließlich zugunsten der 9 Punkte... Für die teilweise intensive Begleitung möchte ich mich an dieser Stelle wirklich bedanken!
Bleibt mir nur noch zu sagen: ich freue mich auf mehr von Dr. Otto Sanftleben - oder auch auf ein anderes Buch von Tim Pieper, der mich immer mal wieder auch zu etwas Historischem bewegen kann. 



© Parden 











Tim Pieper

Tim Pieper, geboren 1970 in Stade, studierte nach einer Weltreise Neuere und Ältere deutsche Literatur und Recht. Seit 1998 lebt er in seiner Wahlheimat Berlin und nutzt jede Gelegenheit, um die spannende und abwechslungsreiche Geschichte der Stadt zu erkunden. Zuerst veröffentlichte er einen Mittelalterroman: "Der Minnesänger"."Mord unter den Linden" ist sein erster historischer Krimi im Emons Verlag.








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