Freitag, 31. März 2017

Sempf, M. & Zahn, T.: Dresden zum Gruseln 2

Bevor nächste Woche ein nie dagewesenes Bücher-Event stattfindet, muss ich schnell noch ein kleines Heft vorstellen aus dem Alwis Verlag. Ein Heft, dass DRESDEN ZUM GRUSELN forsetzt und das ein gewisser experimenteller Archäologe namens Mario Sempf verfasst hat. Illustriert wurde es von seinem Schwertkampfpartner Thomas Zahn. Hier hatte ich das bereits vorgestellt.

Beide traf ich natürlich auf der Dresdner Schriftgut im letzten Herbst.

Das zweite Heft hatte ich zwar bereits als Dresdner Bücherjunge beim Wickel, allein, es fehlt die Rezension.

Nun, so gar gruselt es einen nicht ganz, zuweilen aber schon. Licht und Schatten einer alten Stadt, meiner Stadt. Mario Sempf lässt Ritter Jonas Daniel zu Wort kommen, Leibwächter der Dohnaer Burggrafen, der beim Retten des Grafen Sprösslinge ums Leben kam. Irgendwo in der Nähe von Klotzsche. Im Jahr 1402.


Gleich zu Beginn lernt man dazu. Selbst als gebürtiger Dresdner. Eigentlich denkt man ja, Dresden wäre urkundlich erstmals im Jahr 1206 erwähnt. Na, das wird wohl stimmen. Trotzdem fand man vor nicht allzu langer Zeit eine Landkarte aus dem Jahr 150 n. Chr.  "auf der die von den Römern nicht eroberten Gebiete eingezeichnet sind. Diese Magna Germania stammt aus der Feder von Ptolemäus und erwähnt an der Elbebiegung ein 'Lupphurdum', einen Ort der Langhäuser." (Seite 6 aus Büchlein 1)*

Ständig heißt es "Wussten Sie..."  Wussten Sie, dass die Nagelprobe weder ein handwerkliches Ding war noch eine Foltermethode?  Die Nagelprobe war der Rest Wein aus dem Gefäß, welches man bis zur Neige geleert und der dann auf dem Daumennagel Platz haben sollte. (aus Büchlein 2)

Wussten Sie übrigens, dass die Scharfrichter und deren Familien auf extra Friedhöfen begraben wurden? Sieben Scharfrichtergenerationen lagen auf dem Zweiten Annenfriedhof. Hoffen wir mal, dass der Illustrator der Hefte, der ja als Scharfrichter gelegentlich durch die Straßen Dresdens wandelt und Platz unter der ehrbaren Bevölkerung erhält, wenn er denn das Zeitliche segnet. (Das ist auch  aus Büchlein 2)

DzG 2
Am alten Weißeritzmühlgraben lag die Pulvermühle. Natürlich aus begreiflichen Gründen außerhalb der Stadt. Das Schißpulber wurde mit eisenhämmern gestampft. Und was passiert wenn Funken fliegen? 1613, 138, 1640, 1775 - nach derl letzten Exposion 1796 hörte man mit dieser Praxis langsam auf.


DzG 1
So könnten wir jetzt weitermachen, aber ich will das Büchlein hier nicht abschreiben. Bei Dumas erhält die spätere Lady de Winter ein Brandmal, sie war eine Diebin. Weniger schmerzhaft, wenn auch unangenehm dürften diese Sturmhauben gewesen sein. Eine Strafmaske für mausende höfische Diener. Es gab auch Schandmasken wobei Dumas Mann mit der eisernen Maske diese aus anderem Grund erhielt. Wie ich jetzt auf Dumas komme? Naja, die Musketiere faszinierten seinerzeit, da man gerade mal so acht bis zehn Jahre zählte, durch die Fechtkunst. Und Mario und Thomas üben diese mit mittelalterlichen Saxen aus. Nein, das ist nicht falsch geschrieben, denn die Sachsen führten führten auf ihren Raubzügen ein einschneidiges Messer mit, das nannte man Sax. Irgendwie ist dieser Stamm aus dem Norden nach Thüringen geraten und hat das Land den Thüringer Stammesfürsten entrissen. Das ist nun auch schon wieder über 1000 Jahre her. Mario & Thomas nehmen natürlich keine Messer, sie nehmen mittelalterliche Schwerter, wenn auch nicht ganz so alt. (aus Büchlein 1)

* * *


Jedenfalls führt die Beschäftigung mit dem gruseligen Dresden zu weiteren gruseligen Dingen und so haben die beiden nicht mit Hängen und Würgen das Buch Vom Hängen und Würgen geschrieben. Das ist ein bisschen dicker als die beiden Hefte über das Elbflorenz zum Gruseln. Dazu aber in wenigen Wochen mehr.

Jetzt erst einmal sei gesagt, mit Dresden zum Gruseln 1 & 2 kann man sich auf ebenso gruselige Stadtrundgänge begeben. Das ist nur zu empfehlen. Und auf der nächsten Schriftgut sehen wir die beiden sicherlich fechtend und seilernd, scribierend und zeichnend wieder.



* * *

Übrigens: Warum lächelt auf den Gemälden in der Sempergallerie niemand? Na, weil die alle weder Odol noch Putzi kannten, wichtige Produkte aus dem nicht mehr so ganz gruseligen Dresden. Daher hatten sie oft faulige Zahnstummel. Das sah nicht gut aus. Wo ich das her habe? Aus Dresden zum Gruseln 2 - und das gruselt einen ja nun wirklich, oder?


Übrigens: Dresden zum Guseln 1 & 2 erschien im Alwis - Verlag. Und das ist ein Verlag für Kinder. Es können sich also auch Eltern mitsamt dem Nachwuchs schön gruseln.



* * *

Aber was für ein Event findet denn nun nächste Woche statt? Der Dresdner Tourismustag 2017. Da führen Mario & Thomas am 08.04. geneigte Leute, die da ausziehen, das Gruseln zu lernen, durch die Stadt.

Ich komme! und freue mich auf ein Wiedersehen mit Katharia, Mario & Thomas.


► DNB / Alwis Verlag / Dresden 2015 / ISBN: 978-3-938932-43-8 / 46 Seiten
Thomas Zahn - Kreativ Award
Mario Sempf - Miricuidi


© KaratekaDD


* hatte ich doch das falsche Buch in der Hand - Na so was.



Donnerstag, 30. März 2017

Autissier, Isabelle: Herz auf Eis


Sie sind jung und verliebt und haben alles, was sie brauchen. Aber ihr Pariser Leben langweilt sie, also nehmen Louise und Ludovic ein Sabbatjahr und umsegeln die Welt. Bei einem Ausflug auf eine unbewohnte Insel vor Kap Hoorn reißt ein Sturm ihre Jacht und damit jegliche Verbindung zur Außenwelt mit sich fort. Was als kleiner Ausbruch aus dem Alltagsleben moderner Großstädter gedacht war, mündet urplötzlich in einen existenziellen Kampf gegen Hunger und Kälte. Nicht weniger aufreibend ist das psychologische Drama, das sich zwischen den Partnern entspinnt. Wer trägt die Schuld an der Misere? Wer behält die Nerven und trifft die richtigen Entscheidungen? Und was wird aus der Liebe, wenn es ums nackte Überleben geht? Herz auf Eis ist ein Psychothriller der Emotionen - und die einsame Insel ein Sinnbild für alle großen Herausforderungen, denen sich die Liebe zuweilen stellen muss. 

Nominiert für den Prix Goncourt.


(Klappentext mare Verlag)

  • Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
  • Verlag: Mare Verlag; Auflage: 3. (7. März 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Kirsten Gleinig
  • ISBN-10: 3866482566
  • ISBN-13: 978-3866482562
  • Originaltitel: Soudain, seuls









 Ich danke dem mare Verlag ganz herzlich für die Möglichkeit, dieses Buch als Rezensionsexemplar lesen zu können!  
mare









RÜCKKEHR ZUR NATUR - EIN KAMPF UMS ÜBERLEBEN...




Ein Sabbatjahr wollen sich Ludovic und Louise gönnen, eine Auszeit von ihrem ewiggleichen Pariser Leben, ein Abenteuer. Mit einer kleinen Jacht leben sie ihren Traum von Freiheit und begeben sich auf eine Tour durch den Atlantik. Von den Antillen bis nach Kap Hoorn verläuft die Reise reibungslos, doch dann beschließen sie, verbotenerweise eine kleine Insel anzulaufen, um den maroden Flair einer verfallenen ehemaligen Walfangstation zu genießen. Als während der Erkundung der einsamen Insel ein Unwetter einsetzt, drängt Louise darauf, zur Jacht zurückzukehren. Doch Ludovic will sich das einmalige Erlebnis nicht verderben lassen - denn sind es nicht genau solche Abenteuer, weshalb sie aus ihrem bisherigen Leben ausgebrochen sind?


"Hätte er auf sie gehört, wären sie jetzt gar nicht hier, majestätisch, vollkommen allein am Ende der Welt. Sie hätten das Schiff nicht gekauft und diese grandiose Reise gar nicht angetreten. Tatsächlich, der Himmel verdüstert sich in der Ferne, aber schlimmstenfalls werden sie eben nass. Das gehört zum Abenteuer dazu, genau das ist doch ihre Absicht, aus der Erstarrung des Pariser Büroalltags auszubrechen, in dessen bequemer Trägheit sie draufzugehen und an ihrem Leben vorbeizuleben drohten. Irgendwann hätte der sechzigste Geburtstag vor der Tür gestanden, und sie hätten es bereut, nichts erlebt, nie gekämpft, sich selbst nie kennengelernt zu haben." (S. 8 f.)


Als die Wetterlage noch schlimmer wird, beschließen die beiden jungen Leute, die Nacht auf der Insel zu verbringen und den Sturm abzuwarten. Als sie am nächsten Morgen aus der ehemaligen Unterkunft der Walfänger treten, erwartet sie jedoch nicht nur ein blauer Himmel. Ihre Jacht ist im nächtlichen Unwetter verschwunden - und mit ihr jede Hoffnung auf eine Rückkehr in die Zivilisation. Die prekäre Lage zwingt Louise und Ludovic, sich nicht allzu lang der Verzweiflung hinzugeben - sie müssen alles tun, um nicht zu verhungern.

Das Paar beginnt, den neuen Alltag zu organisieren, der einzig und allein dem Versuch gilt, in dieser unwirtlichen Umgebung zu überleben. Selbst im Sommer beträgt die Höchsttemperatur auf der Insel im Südatlantik lediglich 15° Celsius - da muss das Feuer stets geschürt werden. Das größte Problem jedoch stellt die Beschaffung von Nahrung dar. Wo nichts wächst und Pinguine und Robben die einzigen ererichbaren Lebewesen sind, hat man keine Wahl, wenn es ums nackte Überleben geht. Das Jagen und Schlachten der Tiere gehört bald zu den täglichen Gewohnheiten.


"Alles stinkt nach Rauch, nach ranzigem Fett und Feuchtigkeit. Sie bemerken es nicht einmal mehr. Der Geruch ist ihrer geworden, der Geruch ihres Lebens." (S. 69)

Und doch wird der Hunger zu einem Dauergast. Ludovic und Louise werden immer dünner, obwohl sie stetig versuchen Nahrung zu beschaffen und gleichzeitig nach einem Ausweg aus ihrer misslichen Lage zu suchen. Wie aus der Zivilisation gefallen fühlen sie sich, herauskatapultiert aus der menschlichen Gesellschaft, alleine einer feindlichen Umwelt gegenüber. Das überlieferte Wissen früherer Generationen ist ihnen nicht mehr gegeben - jeden Schritt müssen sich die beiden mühsam erarbeiten, jeden einzelnen Bissen hart erkämpfen. Die Rückkehr zur Natur entpuppt sich als gnadenloser Kampf ums Überleben. Und da, wo die Instinkte zunehmend überwiegen, droht das Menschliche zu versiegen.


"Dieses jämmerliche Dasein hat nicht nur ihren Wohlstand zunichte gemacht. Die Angst hat das Allerwichtigste zerstört: ihre Gefühle, ihre Menschlichkeit. Völlig bloß steht sie da, besessen einzig von dem Drang zu überleben, nicht anders als irgendeins der Tiere, die sie täglich sieht." (S. 113)


Isabelle Autissier, die selbst als erste Frau allein die Welt umsegelte, weiß, wovon sie da schreibt - von der Faszinaion der Natur, dem Zurückgeworfenwerden auf sich selbst, der großen Einsamkeit. Die Einsamkeit zu zweit ist eine ganz besondere, und minutiös beobachtet die Autorin das Geschehen zwischen dem Paar, die Veränderung ihres Verhaltens und ihrer Beziehung zueinander angesichts der existenziellen Bedrohung auf der einsamen Insel. Wächst man zusammen oder driftet man vielmehr auseinander? Hat das Mitmenschliche noch eine Chance, wenn die Instinkte beginnen zu regieren, der reine Überlebenswille?

Gegliedert ist der Roman in zwei Hauptteile - und der zweite Teil spielt in der Zeit nach der Robinsonade. Mehr kann und möchte ich hier nicht verraten, weil ich sonst zu viel vorwegnehmen würde. Doch auch dieser zweite Teil ist atmosphärisch dicht und überzeugt durch genaue Beobachtungen in klarer, präziser Sprache - Leben und Gefühle unter dem Seziermesser, gnadenlos offengelegt. Nicht nur die bildhaften Schilderungen der kargen Einöde auf der Insel, die sich unter den Naturgewalten duckt, ließen mich beim Lesen frösteln - auch die existentiellen Fragestellungen lösten diesen Effekt aus. Und letztlich auch die Frage, wie ich selbst mich in bestimmten Situationen in dieser Extremsituation wohl verhalten hätte und ob das mit dem Bild übereinstimmen würde, das ich gewöhnlich von mir zeichne.

Ein eindringlicher Roman, der nicht zuletzt auch die Frage stellt, was das Menschsein eigentlich ausmacht. Beeindruckend...


© Parden 









Isabelle AutissierDer mare Verlag schreibt über die Autorin:

Isabelle Autissier, 1956 in Paris geboren und dort aufgewachsen, lebt heute in La Rochelle. Mit sechs Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Segeln; 1991 machte sie Furore als erste Frau, die allein im Rahmen einer Regatta die Welt umsegelte. Seit den Neunzigerjahren widmet sie sich dem Schreiben. Herz auf Eis war für den Prix Goncourt nominiert und wurde in zahlreiche Länder verkauft.

  übernommen vom mare Verlag

Dienstag, 28. März 2017

Didierlaurent, Jean-Paul: Die Sehnsucht des Vorlesers



Guylain Vignolles liebt Bücher und hasst seinen Job in einer Papierverwertungsfabrik. Darum liest er jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit im Regionalzug um 6 Uhr 27 laut ein paar Seiten vor, die er am Tag zuvor der Schreddermaschine entrissen hat: sein ganz persönlicher Akt der Rebellion gegen die Vernichtung von Literatur.

Eines Tages entdeckt er im Zug einen USB-Stick, auf dem das Tagebuch einer jungen Frau gespeichert ist. Tief bewegt liest er nun ihre Geschichten vor – und der Zauber springt auch auf die Mitreisenden über. Viel wichtiger aber noch: Die Geschichten verändern Guylains Leben von Grund auf. Er muss diese Frau finden!


(Klappentext dtv)


  • Taschenbuch: 224 Seiten
  • Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (22. September 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Sonja Finck
  • ISBN-10: 3423260785
  • ISBN-13: 978-3423260787
  • Originaltitel: Le Liseur du 6 h 27
















KLEINE HELDEN DES GRAUEN ALLTAGS - EIN MODERNES MÄRCHEN...



Diese Geschichte spielt in Paris - wenn auch nicht mittendrin. Ob vor zehn Monaten, heute oder in zweieinhalb Jahren, ist auch nicht entscheidend. Viel wichtiger ist: Guylain Vignolles liebt Bücher. Unseligerweise muss er sich seinen Lebensunterhalt jedoch in einer Papierverwertungsfabrik verdienen. Aus diesem Grund hat er wohl auch diese Macke entwickelt, die ihn Tag für Tag aus der grauen Masse der Pendler herausstechen lässt: Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit liest er im 6-Uhr-27-Regionalzug laut ein paar Seiten vor, die er tags zuvor der gewaltigen Schreddermaschine entrissen hat - sein heimlicher Akt der Rebellion gegen die Vernichtung von Literatur. Sonst ist der schüchterne Maschinenführer gefangen in einem monotonen Leben. Eines Tages aber geschieht etwas, das die Dinge von Grund auf verändern wird: Direkt vor seinem orangeroten Klappsitz im Zug findet Guylain einen USB-Stick, auf dem das Tagebuch einer ganz besonderen jungen Frau namens Julie abgespeichert ist...


"Für die Passagiere im Waggon war Guylain der komische Kauz, der jeden Morgen ein paar Buchseiten aus seiner Aktentasche zog, um sie mit lauter, klarer Stimme vorzulesen. Es waren nicht die Seiten eines bestimmten Buches. Nein, die Texte hatten rein gar nichts miteinander zu tun (...) Guylain war das egal. Für ihn war der Inhalt bedeutungslos. Was zählte, war der Akt des Vorlesens. Er schenkte jedem einzelnen Blatt seine ungeteilte Aufmerksamkeit, damit das Vorlesen seine magische Wirkung entfalten konnte: Jedes Wort, das ihm über die Lippen kam, befreite ihn ein bisschen von dem Ekel, der ihn beim Gedanken an seine Arbeit überkam." (S. 14)



Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des 36jährigen Guylain, der einen Beruf ausübt, der ihn unglücklich macht. Er, der Bücher liebt, trägt täglich dazu bei, dass die Bestie - die große Schreddermaschine in der Firma - tonnenweise Bücher verschlingt und zu Papierbrei zermalmt, aus dem dann neue Bücher entstehen.  Guylains Ekel vor dieser Tätigkeit ist so greifbar, dass es  einem  selbst beim Lesen vorkommt, als ob die Bestie ein von Grausamkeit geprägtes Eigenleben führt, und die einzige Möglichkeit der Rebellion besteht für Guylain darin, der Maschine einzelne Buchseiten wieder zu entreißen.


"Gespannt schaltete Guylain seine Stirnlampe an. Tief im noch warmen Bauch der Bestie würde er gleich auf seine Diebesbeute stoßen. Sie erwartete ihn immer an derselben Stelle, der einzigen, die der Wasserstrahl aus den Düsen nicht erreichte: Ein paar Buchseiten (...) entgingen so ihrem Schicksal. Giuseppe hatte sie immer 'meine Findelkinder' genannt. 'Das sind die einzigen Überlebenden des Massakers, mein Junge', hatte er Guylain mit bewegter Stimme erklärt, als er ihm vor Jahren die Stelle gezeigt hatte." (S. 47)


Guylain fristet sein ereignisloses Dasein aus Arbeit, einsamen Abenden mit seinem Goldfisch namens Rouget de Lisle und gelegentlichen Treffen mit seinem väterlichen Freund Giuseppe. Er verlangt nicht viel vom Leben, doch eines Tages erhält das gewohnheitsmäßige Alltagsgrau einen kleinen Riss. Guylain findet in der Bahn einen USB-Stick, auf dem ihn die Begegnung mit einem ganz anderen Leben erwartet. Das Tagebuch einer Frau namens Julie gewährt Guylain Einblicke in ein fremdes Leben, und er fühlt sich bald schon hingezogen zu der Fremden, deren Welt auch nicht wesentlich ereignisreicher ist als das seine. Julie arbeitet als Toilettenfrau in einem Einkaufszentrum, doch sie schreibt über ihre Begegnungen und Beobachtungen dort, und Guylain ist fasziniert von ihren Gedanken.


"Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht schreibe - denn das wäre so, als hätte ich an dem Tag nicht wirklich gelebt und mich stattdesen nur auf die Rolle beschränkt, die die Leute mir übergestülpt haben: die Rolle eines bemitleidenswerten Geschöpfs, dessen einziger Daseinszweck es ist, ihre Hinterlassenschaften zu beseitigen." (S. 152)


Guylain ist, als sähe die fremde Schreiberin die Welt mit ähnlichen Augen wie er! Er muss diese Frau finden - doch ohne einen wirklichen Anhaltspunkt kein leichtes Unterfangen. Aber allein durch seine Suche kriecht unaufhaltsam Farbe in sein graues Dasein. Und ganz allmählich verändert sich der zurückhaltende, schüchterne, fast schon menschenscheu anmutende Guylain und entdeckt zunehmend auch schöne Seiten am Leben.

Wer außergewöhniche Geschichten und schräge Bücher mag, der ist hier richtig. Jean-Paul Didierlaurent ist es gelungen, die Figuren in diesem Roman zu kleinen Helden ihres monotonen und grauen Lebens zu machen. Trotz oft einfach anmutender Sprache gibt es nahezu poetische Passagen, und durch die Melancholie des Alltags zieht sich auch stets ein breiter Streifen Humor, der mich immer wieder lächeln ließ. Ein Buch für Bücherliebhaber und ein modernes Märchen - ein Wohlfühlroman, der ein wenig Farbe ins Alltagsgrau zaubert.


© Parden 













Portrait des Autors Jean-Paul DidierlaurentDer dtv schreibt über den Autor:

Jean-Paul Didierlaurent, 1962 in La Bresse/Elsass geboren, lebt nach einigen Jahren in Paris nun wieder in seinem Heimatort und arbeitet im Kundencenter eines Telekommunikationsunternehmens. 1997 hat er zum ersten Mal zwei Erzählungen bei einem Schreibwettbewerb eingereicht – und beide haben gewonnen. Seither hat er etliche preisgekrönte Kurzgeschichten geschrieben. ›Die Sehnsucht des Vorlesers‹ ist sein erster Roman.

übernommen vom dtv

Montag, 27. März 2017

Peter Wohlleben: Das Seelenleben der Tiere

Das Seelenleben der Tiere
ist Verhaltensforschern und Biologen bisher weitgehend ein Rätsel.
Zunehmend scheint sich jedoch die Erkenntnis durchzusetzen, dass die Fähigkeit, Gefühle zu

empfinden und sich selbst als Individuum wahrzunehmen, nicht allein dem Menschen, der sog. "Krone der Schöpfung", vorbehalten ist.
Wer jemals engeren Kontakt zu (Haus-)Tieren hatte, der weiß, dass die einzelnen Individuen sehr unterschiedliche Charaktereigenschaften besitzen und ganz offenkundig auch Emotionen zeigen.
Peter Wohlleben zeigt dies in seinem Buch an vielen Beispielen und beschäftigt sich eingehend mit der Frage: Was ist davon Instinkt und was bewusstes Handeln? Dabei weist er an vielen Beispielen nach, dass auch wir Menschen nicht frei von instinktgesteuertem Handeln sind. Wissenschaftler streiten sich ´bis heute darüber, ob unser Bewusstsein oder unser Unterbewusstsein die Oberhand in uns hat. Vielmehr scheint es, als seien die Grenzen zwischen instinktivem und bewusstem Handeln durchaus fließend: Insoweit ist es naheliegend, darüber nachzudenken, ob es richtig ist, Tiere als bloße "biologische" Automaten zu sehen, die lediglich von der Natur vorprogrammierte Programme abspulen. Wenn wir aber zu dem Ergebnis kommen, dass Tiere uns in vielem näher sind als wir bisher dachten, ist es dann nicht an der Zeit, unsere Einstellung und vor allem unser Verhalten gegenüber diesen Mitgeschöpfen zu verändern?
Peter Wohlleben hat ein interessantes und ein sehr wichtiges Buch geschrieben.
Er lässt keinen Zweifel daran, dass er Tiere als fühlende und emphatische Mitgeschöpfe sieht, die unseren Respekt verdienen. Schön ist, dass er den Leser nicht zu seiner Überzeugung nötigt, sondern ihm ein Angebot macht, sich anhand der vielen Beispiele aus dem Buch (und seiner eigenen Erfahrung) ein eigenes Bild zu machen.
Ein gutes Buch, das mich sehr nachdenklich gemacht hat!

Im Internet gibt es zahlreiche Beiträge zu diesem Thema. Einige Links habe ich nachfolgend aufgelistet:

- Die Gefühle der Tiere
- Wissenschaftler erkennen an, dass Tiere Emotionen haben
- Freude und Trauer. Haben Tiere Gefühle?
- Focus: Forschung und Technik: Die Gefühle derTiere




Peter Wohlleben
Das Seelenleben der Tiere
Sachbuch, gebunden, 240 Seiten
Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg
Preis: 17,95
Preis der Originalausgabe: 19,99
erschienen bei: Verlag Ludwig, München 2016



Samstag, 25. März 2017

Instagram & Co.

Ja was denn noch alles? Da sind doch schon so viele Möglichkeiten, meine Fotos zu veröffentlichen. Abgesehen davon, dass deren Veröffentlichung nur ab und zu Aufmerksamkeit erregt, geschweige denn Kommentare. Nun ja, ich tummle mich ja auch nicht ständig in den diversen Communities und so was beruht dann doch auch auf Gegenseitigkeit.





Mit was fing das an? Ach ja, fotocommunity.de, Facebook - Profil, dann kam das Shootcamp (genialer Internet-Fotokurs), anschließend flickr.de, und dann, dann kam ein neues Handy.  Mit dem iPhone kam instagram. Eine Plattform, die ich nie wollte, die sich aber als eine der besten für die Handyfotografie herausstellte. Erste Versuche unternahm ich mit diversen, leider eher rumstehenden Musikinstrumenten. Die nächsten hatten dann schon was mit dieser Bloggerei hier zu tun. Deutlich zu sehen: das kostet Zeit, Whisky und es braucht Sehschärfe.




Was Instagram ausmacht, das ist die vielseitige und einfach sehr schnelle Art und Weise der Fotobearbeitung. Kontraste, Schärfen und vor allem das Hervorheben, die Klarheit und einiges mehr lassen sehr schnell Fotos enstehen, die man auf Twitter und Facebook auch schnell weiter verteilen kann. Spaß macht es auch im Herbst und im Winter zu fotografieren. Hier war ich mal wieder im Hafen, wo die nächste Bildserie entstand.



Im sehr zu empfehlenden Fotokurs des Österreichers Christian Anderl bekommt der Fotounkundige, die meisten sind eigentlich so unkundig nicht, eine der ersten Aufgaben:

Er soll die teure Spiegelreflex aus der Hand legen, ausnahmsweise das Handy benutzen und auf die Suche nach Motiven gehen. Aufmerksamkeit ist gefragt.

Da sind schon schöne Sachen zu sehen gewesen in der Communiy, für die ich hier gern etwas Werbung betreiben möchte.

Das Schilfrohr im herbstlichen Wind und das letzte Grün sind solche Bilder, finde ich.

Wer unseren Blog etwas aufmerksamer verfolgt, der weiß, dass Anne und ich ganz vernarrt in die Bücher von Tim Pieper sind. Das letzte Buch war Kalte Havel. In diesem geht es um Mord, aber hier geht es um Bilder. Teilweise aber spielte der Roman in den Belitzer Heilstätten. Und die sind es unbedingt wert, einmal besucht zu werden. Natürlich mit der Fotoknipse. Irgendwann muss ich die Bilder mal durch Photoshop laufen lassen, aber hier hab ich mal ein paar Beispiele, für die das Smartphone herhalten musste. Die Belitzer Heilstätten waren einmal ein super moderner, weltweit einzigartiger Krankenhauskomplex in der Nähe von Berlin.




Heute sind das meist Ruinen, deren Charme immer wieder Fototouristen anlockt, aber auch Cliquen, die es sich in den alten Gebäuden gut gehen lassen. Mit geistigen Getränken und dem Rauch verbotener Substanzen ist deren Sorge, dass die Gebäude mal wieder einem Zweck zugeführt werden. Das spielt übrigens in dem genannten Roman eine Rolle.



Wenn man eine musisch - litterarische Ader hat, dann verknüpft man das gelegentlich miteinander. Zwei Klaviere sind hier rechts zu sehen. Das eine ist auch schon eine Ruine und ist in den Beelitzer Heilstätten ein beliebtes Motiv. Das andere, mit dem Efeu drum herum passt eher zu diesem Blog, denn dieses, noch "funktionierende" Klavier stand in der Messe Dresden während der Schriftgut. Von dieser kleinen und feinen Büchermesse war schon öfter die Rede hier auf Litterae- Artesque.

Etwas weniger musisch sind die folgenden Detailaufnahmen, die nicht auf den Anfang des 20. Jahrhunderts hinweisen, als die Heilstätten entstanden, sondern eher auf die Zeit, da das Areal von Soldaten wie dem in der Mitte etwas weiter oben bevölkert war.
















Irgendwann war auch im letzten Jahr Weihnachten. diese Zeit lädt auch stets ein, Fotoversuche zu machen. Solche wie die folgenden Bilder hier:
.




Der hier bloggende Hobbyfotograf wohnt ja nun in der Mecklenburger Seenplatte, gelegentlich ist der Zierker See auch mal vereist. Ich habe ja schon ein paar Hafenbilder erwähnt - das rechte Bild ist allerdings der nicht vereiste Tegernsee. So eine verlassene Steganlage fotografiert man doch am besten in Schwarz - Weiß. Auch Sepia bietet sich gelegentlich an. Überhaupt ist das Verschieben der Farbregler ein interessanter Aspekt.





Zum Schluss. Nein, ein Technikfreak bin ich bestimmt nicht. Aber man kann auf diese Weise ja auch mal festhalten, was einen sonst so interessiert und der neue Kodiaq wäre schon ein Auto, welches man nicht nur ablichten muss. Man könnte dazu auch zu einem neuen Fototermin fahren.




Ein guter Freund hat unter dem rechten Bild überzeugend erklärt, dies "wäre die erste Kamera, die ein Selfie von sich macht." Das war´s mal wieder von der Fotosparte.


© KaratekaDD





Freitag, 24. März 2017

Scheer, Regina: Machandel


Ein großer Familien- und Generationenroman über die DDR und wie sie unterging.

Regina Scheer spannt in ihrem beeindruckenden Debütroman den Bogen von den 30er Jahren über den Zweiten Weltkrieg bis zum Fall der Mauer und in die Gegenwart. Sie erzählt von den Anfängen der DDR, als die von Faschismus und Stalinismus geschwächten linken Kräfte hier das bessere Deutschland schaffen wollten, von Erstarrung und Enttäuschung, von dem hoffnungsvollen Aufbruch Ende der 80er Jahre und von zerplatzten Lebensträumen.


(Klappentext Knaus Verlag)


  • Gebundene Ausgabe: 480 Seiten
  • Verlag: Albrecht Knaus Verlag (11. August 2014)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3813506401
  • ISBN-13: 978-381350640








Ich danke dem Knaus Verlag ganz herzlich, dieses Buch als Rezensionsexemplar lesen zu dürfen!








MECKLENBURGISCHE MELANCHOLIE...



Als Clara 1985 ihren Bruder Jan vor seiner Ausreise aus der DDR nach Machandel begleitet, findet sie in dem mecklenburgischen Dorf eine verwunschene Sommerkate. Hierhin zieht sie sich mit ihrer jungen Familie vor den turbulenten politischen Entwicklungen in Ostberlin zurück. Zu Beginn ahnt sie nicht, wie sehr ihre persönliche Geschichte mit diesem Dorf verwoben ist. Schon ihr Vater, der Kommunist und von den Nazis verfolgte Hans Langer, fand hier in den letzten Kriegstagen Zuflucht, bevor er im neuen Staat Minister wurde. Doch nun kehrt sein Sohn diesem Staat den Rücken, und seine Tochter engagiert sich in Bürgerbewegungen.

Regina Scheer spannt in Manchandel den Bogen von den 30er Jahren über den Zweiten Weltkrieg bis zum Fall der Mauer und in die Gegenwart. Sie erzählt aus der Perspektive von Clara, ihrem Vater Hans, dem jungen Dissidenten Herbert, der ukrainischen Zwangsarbeiterin Natalja und der 1943 vor den Bomben von Hamburg nach Mecklenburg geflohenen Emma von den Anfängen der DDR, als die von Faschismus und Stalinismus geschwächten linken Kräfte hier das bessere Deutschland schaffen wollten. Sie erzählt von Erstarrung und Enttäuschung, von Lebenslügen und Sich-Einrichten, vom hoffnungsvollen Aufbruch Ende der 80er Jahre und von zerplatzten Lebensträumen.


"Seit fünfundzwanzig Jahren gehört Machandel, dieses abgelegene Dorf auf dem Malchiner Lobus der Endmoräne, zu meinem Leben. Vorher war ich nie hier gewesen. Dabei sind meine Eltern sich hier begegnet, und mein Bruder Jan, das wusste ich immer, wurde im Schloss von Machandel geboren. Aber Jan ist vierzehn Jahre älter als ich, und bei meiner Geburt im Jahr 1960 wohnte meine Familie schon lange in Berlin. Unsere Großmutter, die in Machandel geblieben war, starb kurz danach, es gab keinen Grund mehr für einen von uns, in dieses Dorf zu fahren. Dachte ich." (S. 14)


Was für ein Roman! Regina Scheer gelingt hier ein großer Wurf, eine vielschichtige Erzählung mit zahlreichen Ebenen und Metaebenen. Nicht allein, dass hier wechselnd aus fünf verschiedenen Perspektiven erzählt wird, wodurch nicht etwa Verwirrung gestiftet, sondern deutlich wird, dass dasselbe Zeitgeschehen von verschiedenen Personen vollkommen unterschiedlich erlebt und bewertet werden kann. Darüber hinaus verwebt Scheer das Thema 'Machandel' auf vielfältige Weise mit der Erzählung - das fiktive Dorf in Mecklenburg hat seinen Namen von den Wacholderbäumen erhalten, die im niederdeutschen Machandelbäume genannt werden und rund um das Dorf anzutreffen sind. Clara befasst sich in ihrer Doktorarbeit außerdem mit dem Grimmschen Märchen 'Machandel' und mit dessen Deutungsmöglichkeiten, und der Autorin gelingt es, hier stets auch einen Bezug zwischen dem Märchenhaften und der Realität herzustellen. Den einzelnen Personen widmet sich Regina Scheer mit einer sorgfältigen Hingabe und schildert das Geschehen mit differenzierten Details, ohne jemals Gefahr zu laufen, sich zu verzetteln. Dafür allein meine Hochachtung.


"Ich spürte und wusste allmählich, dass an diesem Ort, in unserem eigenen Haus, etwas geschehen war, das nicht vergessen war, das sich jederzeit plötzlich zeigen konnte, als ein Schmerz in Nataljas Gesicht, als ein Verstummen im Gespräch der Frauen am Bus, in der Geste, mit der sie sich kaum merklich von Wilhelm abwandten. Dieses Ungesagte verwob sich für mich mit dem Märchen vom Machandelboom, es machte mich traurig. Dennoch fuhren wir so oft wie möglich nach Machandel, als würden wir nur an diesem Ort festhalten können, was uns allmählich verloren ging." (S. 190 f.)


Wie ging es mir nun mit der Lektüre? Ich habe das Lesen als unglaublich intensiv erlebt. Durch die geschilderte Vielschichtigkeit habe ich lange für den Roman gebraucht, da ich nach einigen Seiten stets das Gefühl hatte, 'satt' zu sein. Eine Fülle an Informationen, Emotionen, Nachdenkenswertem wollte verarbeitet werden, so dass ich das Buch immer wieder zur Seite legte. Abgesehen von meiner Faszination über die gelungene Komposition des Romans war die Lektüre auch überaus interessant. So viel Wissenswertes zum Zeitgeschehen in der DDR vom Zweiten Weltkrieg bis zur Wende und darüber hinaus habe ich erfahren - und gleichzeitig gemerkt, dass es dort nicht DEN Traum gab, sondern viele Träume, und dass die Anstrengungen auch der damaligen Opposition nicht zwangsläufig in dieselbe Richtung zielten. Da waren Enttäuschungen vorprogrammiert. Die Melancholie zieht sich so auch durch die Erzählung.


"Immer wieder erfuhr ich, wie scheinbar Vergangenes in die Gegenwart führt, wie es immer um dasselbe geht - um Menschen und ihre Träume, um Macht und Ohnmacht. Und die Dinge sind selten so, wie sie scheinen." (S. 423)


Auch wenn die unterschiedlichen Perspektiven dazu beitragen, dass das Zeitgeschehen nicht eindimensional präsentiert wird, waren mir persönlich nicht alle gleich lieb. Aus Claras Sicht wird das Geschehen am häufigsten geschildert, und sie war es auch, der ich mich am nähesten gefühlt habe. Eher unangenehm waren mir teilweise die (zum Glück eher seltenen) Schilderungen aus der Perspektive von Claras Vater, weil hier oftmals eine Fülle von Informationen auch zu Sozialismus und Kommunismus stakkatoartig auf mich einprasselten, mit unzähligen, mir meist unbekannten Namen und oft nur angedeuteten Zusammenhängen, was ich als anstrengend empfand. Doch in der Summe ist dieser Roman ein faszinierendes Kaleidoskop deutscher Zeitgeschichte vom Krieg bis zur Wende und darüber hinaus...

Überaus beeindruckend!


© Parden












Der Knaus Verlag schreibt über die Autorin:

Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren, studierte Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Von 1972–1976 arbeitete sie bei der Wochenzeitschrift „Forum“, deren Redaktion wegen „konterrevolutionärer Tendenzen“ aufgelöst wurde. Danach war sie freie Autorin von Reportagen, Essays und Liedtexten und Mitarbeiterin der Literaturzeitschrift „Temperamente“. Nach 1990 arbeitete sie an Ausstellungen, Filmen und Anthologien mit und veröffentlichte mehrere Bücher zu deutsch-jüdischer Geschichte. „Machandel“ ist ihr erster Roman, für den sie 2014 den Mara-Cassens-Preis erhielt.

übernommen vom Knaus Verlag

Dienstag, 21. März 2017

Lambert, Karine: Und jetzt lass uns tanzen (Hörbuch)


Die Wege von Marguerite und Marcel kreuzen sich bei einer Kur in den Pyrenäen. Sie ist nie aus dem Schatten ihres Mannes getreten und erkennt erst nach dessen Tod, dass sie ein Leben gelebt hat, das nicht ihres war. Er hat zusammen mit der Frau, die ihm alles bedeutete, auch seine Lebensfreude verloren. Obwohl Marguerite und Marcel einander so fremd sind, beschließen sie, sich zu vertrauen. Doch wagen sie es auch, noch einmal zu lieben?

(Klappentext Random House Audio)


  • 4 Audio CD (4 h 50)
  • Verlag: Random House Audio; Auflage: Ungekürzte Lesung (6. März 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Pauline Kurbasik
  • Lesung: Iris Berben
  • ISBN-10: 3837138283
  • ISBN-13: 978-3837138283
  • Originaltitel: Eh bien, dansons maintenant! (JC Lattès)










Ich danke dem Verlag Random House Audio ganz herzlich für die Möglichkeit, dieses Hörbuch als Rezensionsexemplar hören zu dürfen!
Random House Audio









ALTER SCHÜTZT VOR LIEBE NICHT...




Beinahe wären sie einander nie begegnet: Marcel, der den Sternenhimmel liebt, und Marguerite, die nur dem Tag Schönheit abgewinnen kann. Er, für den nur die Freiheit zählt, und sie, die ausnahmslos allen Regeln folgt. Doch dann verlieren beide ihre langjährigen Ehepartner. An diesem Wendepunkt in ihrem Leben treffen Marguerite und Marcel aufeinander und stellen überrascht fest, dass sie über die gleichen Dinge lachen. Wagen sie es auch, noch einmal zu lieben?

Marguerite ist 78 Jahre alt, als der Mann, mit dem sie länger als ein halbes Jahrhundert verheiratet war, stirbt. Ein Leben in Abhängigkeiten hat sie bis dahin geführt, vom Elternhaus ist sie ins Eheleben geglitten, hat getan, was von ihr erwartet wurde. Ein kultiviertes Paar ohne Überraschungen waren Marguerite und der Notar Henri, seine Liebe zu ihr war 'würdevoll und tadellos'. Trotz der Lieblosigkeit der Verbindung entsprang ihr ein Sohn, und nun besteht der Höhepunkt der Woche darin, dass ihr einziger Enkel Marguerite besucht. Nach dem Tod ihres Mannes Henri ist Marguerite froh, dass ihr Sohn Frederic dessen Gewohnheiten kopiert und ihr vorgibt, wie sie sich zu verhalten hat.


"Ihr wird die Leere in ihrem Leben bewusst (...) Früher hatte sie ihre Schwester. Aber vor knapp 60 Jahren veränderte eine vereiste Straße den Lauf der Geschichte (...) Weder eine Freundin noch Liebe. Damit ging sie wenigstens nicht das Risiko ein, ein zweites Mal einen geliebten Menschen zu verlieren (...) Deshalb ließ sich ihr Leben in einem Wort zusammenfassen: 'hätte'."


Während einer ärztlich verordneten Thermalkur in den Bergen lernt Marguerite Marcel kennen. Mit seinen 73 Jahren ist er jünger als sie, doch ist er ebenfalls verwitwet. Sein ganzes Leben war er glücklich mit Nora, seiner Kindheitsliebe, nachdem ihre Familie ebenso wie die seine aus Algerien nach Frankreich geflüchtet war. Marcel ist nicht daran gestorben, dass er Nora überlebt hat, aber er ist wie versteinert. Nur dem Drängen seiner Tochter ist es zu verdanken, dass er sich ebenfalls in die Kur begeben hat.

Keiner der beiden hätte damit gerechnet, dass sie sich in ihrem Alter noch einmal einem anderen Menschen zuwenden. Doch Marguerite und Marcel berühren einander - in der Seele, im Geist und auch körperlich. Was als Abenteuer beginnt, lässt sie schließlich nicht mehr los, und so suchen sie auch nach der Kur den Kontakt zueinander. Vor allem Marguerites Sohn stößt das Verhalten seiner Mutter auf, und so sucht er diese Liaison zu beenden. Dabei schreckt er auch nicht davor zurück, Marguerite in ein Altersheim zu stecken, damit alles seine Ordnung hat. Doch lässt sich die Liebe wirklich unterdrücken?


"Öse für Öse öffnet er das unsichtbare Korsett, das sie all die Jahre getragen hat. Er atmet sie ein."


Die mir bis dahin unbekannt belgische Autorin Karine Lambert präsentiert hier eine berührende, lebensbejahende, behutsame Erzählung, die dem Alter der Hauptcharaktere entsprechend ein langsames Tempo anschlägt. Zu keiner Zeit gleitet das Geschehen ins Kitschige ab, und doch kennt der Roman kein Tabu. Liebe im Alter - welch tröstliche Vorstellung, dass es dafür nie zu spät ist. Das Leben genießen zu jeder Sekunde, das ist es, was Marguerite und Marcel bei allen vorhandenen Schwierigkeiten hier vorleben. Eine wahrhaft bezaubernde Geschichte, die von Iris Berben überaus passend gelesen wird.

Ein Hörbuch, das ich gerne auch noch einmal als Buch genießen möchte, weil es so viele Passagen gab, die ich mir gerne notiert hätte. Hier konnte ich in jede einzelne Zeile eintauchen.


© Parden


















Karine LambertRandom House Audio schreibt über die Autorin:

Karine Lambert ist Fotografin und Schriftstellerin. Nach vielen Reisen und Aufenthalten in verschiedenen Ländern lebt sie heute wieder in ihrer Geburtsstadt Brüssel. Für ihr erstes Buch, das in Frankreich zum Bestseller avancierte, erhielt sie 2014 den Prix Saga Café für das beste belgische Debüt. Mit ihrem zweiten Roman Und jetzt lass uns tanzen erscheint sie nun im Diana Verlag erstmals auf Deutsch. Das Buch wird in neun Sprachen übersetzt und in 21 Ländern veröffentlicht.

übernommen von Random House Audio



Iris BerbenRandom House Audio schreibt über die Sprecherin:

Iris Berben, geboren 1950 in Detmold, spielte in mehr als 300 Kino- und Fernsehfilmen und gehört zu den erfolgreichsten deutschen Schauspielerinnen. Seit über zehn Jahren ermittelt sie im Fernsehen als "Rosa Roth", viel beachtet sind auch ihre Lesungen, u.a. aus den Tagebüchern von Anne Frank und Joseph Goebbels. 2003 wurde sie für ihr Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik ausgezeichnet. Als Sprecherin hat Iris Berben u.a. "Und da kam Frau Kugelmann" von Minka Pradelski und Françoise Sagans "Bonjour Tristesse" für die BRIGITTE Hörbuch-Edition gelesen.

übernommen von Random House Audio

Sonntag, 19. März 2017

Averbeck, Sanne: Die Gästeliste


Die Welt ist ein Dorf und Facebook sein schwarzes Brett.

Carola Martins hat die Menschen und sozialen Netzwerke fest im Griff. Regelmäßig veranstaltet sie Partys, zu denen sie wichtige Persönlichkeiten einlädt, und erschleicht sich subtil Vorteile. Ihrer Karriere im Rampenlicht scheint nichts mehr im Weg zu stehen. Doch gerade, als sie den bedeutendsten Erfolgen entgegensieht, werden Menschen aus ihrem Bekanntenkreis brutal ermordet. Alles deutet auf Carola als Täterin hin. Offenbar will jemand ihr Leben vollkommen zerstören. Um das zu verhindern, muss sie ihren kostbarsten Besitz aus der Hand geben: die Gästeliste!


(Klappentext LYX Verlag)

  • Broschiert: 416 Seiten
  • Verlag: LYX (16. Februar 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3736302401
  • ISBN-13: 978-3736302402










DIE KEHRSEITE DER SOCIAL MEDIA...



Es erfordert viel Disziplin und Fingerspitzengefühl, um sich in der Welt der Social Media ganz an die Spitze zu katapultieren. Carola Martins jedenfalls ist auf dem besten Weg dahin. Blog, Facebook & Co. haben ihr dazu verholfen, sich einen Namen zu machen, und so bekommt sie lukrative Aufträge von Firmen, schmeißt gefragte Partys und ist ein gern gesehener Gast bei wichtigen Events. Stets auf ein makelloses Auftreten bedacht, zeigt Carola immer nur die glatte Fassade und führt ein skandalfreies Leben - no Sex and Drugs and Rock'n'Roll, jedenfalls nichts, was irgendjemand mitbekommen könnte. Selbst aus ihrer Wohnung hat Carola alles Persönliche verbannt, Fotos, Tagebücher oder sonstige persönliche Aufzeichnungen sucht man hier vergebens.

Denn Carola weiß um die Macht des Wissens. Sie selbst sammelt jede verfügbare Information über die Menschen, mit denen sie es zu tun bekommt, und führt darüber akribisch Buch. 'Die Gästeliste', wie Carola die Informationssammlung auch nennt, steht im Ruf, auch brisantes Wissen zu bergen - und schon lange gibt es Neugierige, die nur zu gerne einmal einen Blick darauf werfen würden. Doch nicht einmal Carolas einzige Vertraute und Freundin aus Kindertagen, Bianca, weiß um diese Details. Dafür verfolgt diese bewundernd Carolas Geschick, sich zielbewusst in den Social Media zu bewegen - subtil gibt das It-Girl nicht nur vor, wer oder was gerade angesagt ist, sondern manipuliert auch geschickt die Meinungsbildung der Follower, so dass selbst Neider ihrem Nimbus nicht wirklich etwas anhaben können.


"Carola ist bewundernswert zielstrebig. Wenn Sie ihr etwas vorwerfen wollen, dann nur, dass sie verstanden hat, wie das Spiel läuft. Alle, die hier sind, netzwerken und versuchen, sich Vorteile zu verschaffen. Carola hat dieses System perfektioniert." (S. 181)


Doch in dieses empfindlich austarierte Gefüge bricht plötzlich eine Folge ungewöhnlicher Todesfälle. Alle scheinen mit Carola zu tun zu haben, und bald schon beginnt ihr Stern zu fallen. Immer weniger Menschen suchen ihre Nähe, die Aufträge von Firmen bleiben aus, und auch die Meinungsäußerungen im Netz lassen nach - niemand will mehr in den Fokus des immer grausamer agierenden Mörders geraten. Doch wer steckt hinter den Taten? Und was ist sein Motiv?

Hinter dem Pseudonym Sanne Averbeck steckt die Autorin Sonja Rüther, von der ich bereits einige Bücher gelesen habe. Und aus Erfahrung weiß ich, dass man sich bei ihren Werken stets auf Überraschungen gefasst machen muss. Geschickt lenkt die Autorin hier den Verdacht des Lesers auf bestimmte Akteure, und gerade, wenn man denkt, der Lösung nahe gekommen zu sein, stellt man fest, dass Sonja Rüther einen genau da haben wollte. Da hilft dann nur Grinsen oder Kopfschütteln - und eben Weiterlesen.


"In einer Welt, die Virtualität und Realität verschmelzen lässt, gelten andere Gesetze - strengere Gesetze (...) Wer heute ein König ist, kann schon morgen mit faulen Worthülsen beworfen werden. Und Sicherheit ist nur ein Mouseclick vom Untergang entfernt. (Lydia Raymond, Sozialwissenschaftlerin, Philosophie der virtuellen Macht)" (S. 5)


Aus wechselnder Perspektive von Carola und ihrer besten Freundin Bianca wird dieser Thriller erzählt, wodurch der Leser stets auf dem selben Wissensstand ist wie die beiden. Den Abschnitten vorangestellt ist oftmals ein Zitat der angeblichen Sozialwissenschaftlerin Lydia Raymond zu dem Bereich der virtuellen Welten (s.o.) - im Rahmen der Leserunde stellte sich heraus, dass diese Person der Fantasie von Sonja Rüther entsprungen ist, und dass es der Autorin ein großes Vergnügen bereitet hat, Statements zum Thema Social Media auf diese Art auszudrücken. Durch den wiederholten Einschub an Screenshots von Diskussionen auf Facebook gewinnt das geschilderte Geschehen zusätzlich an Authentizität. Insgesamt erscheint der Thriller durch die Verknüpfung dieser stilistischen Mittel ansprechend und geschickt konzipiert, was mir gut gefallen hat.

Die Mischung aus spannender Unterhaltung einerseits und kritischen Gedanken zum Umgang mit den Sozialen Medien andererseits finde ich sehr gelungen. Dass es hier für mich nicht zu fünf Sternen reichte, liegt an ein paar Kleinigkeiten - auch wenn dies eher 'Jammern' auf hohem Niveau ist. Fehlende Sympathieträger, einige Längen in der zweiten Hälfte des Buches und kaum Informationen zum Täterhintergrund sind Minuspunkte, die verschmerzbar sind, die aber durch den ständigen Wechsel hinsichtlich der Vermutung, wer denn nun der Täter ist, auch fast wieder wettgemacht werden.

Insgesamt einmal mehr eine spannende Lektüre aus der Feder Sonja Rüthers, die diesmal ein Pseudonym gewählt hat. Immer gerne mehr davon!


© Parden












Der LYX-Verlag schreibt über die Autorin:

Sanne Averbeck ist ein Pseudonym der deutschen Autorin Sonja Rüther. Seit vielen Jahren betreibt sie erfolgreich den Verlag Briefgestöber. Neben phantastischer Literatur schreibt sie am liebsten Thriller. Ihre Romane zeichnen sich vor allem durch die besondere Originalität von Setting und Handlung aus. Sonja Rüther lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Hamburg.

übernommen vom LYX-Verlag