Mittwoch, 31. Mai 2017

Schmadalla, Sybille A: Von Notburga, Maria, Cäcilie, Malin und Pia


Als Pia zufällig einen TV Bericht über die Befreiung Rosstals im April 1945 durch die Amerikaner sieht, beginnt sie sich Fragen zustellen nach der Geschichte ihrer Familie und inwieweit dies Einfluss auf ihre eigene Biografie hatte.
Sie stößt auf die Tagebücher und andere Dokumente ihrer Ahninnen. Es spannt sich ein Bogen von 1850 von Notburga, der Ururgroßmutter über deren Tochter Maria, die eine Suffragette war, hin zur Oma Cäcilie, die nach Paris ging, zurück kehrte, heiratete und Pias Mutter gebar. Pia reist durch den Wandel der Zeiten, Aufbruch und Niedergang, Beginn des Technologiezeitalters. Sie erfährt, die allmählich veränderte Stellung der Frau von einer rechtlosen, dem unmündigen Kindern gleichgestellten Frau hin zur emanzipierten Frau der heutigen Gesellschaft einerseits. Andererseits gibt es die individuellen Antworten der Protagonistinnen auf ihre persönliche Lage.
Dieses Buch führt den Leser vom beschaulichen Franken, nach Frankreich, Norwegen und Afrika. Im Spiegel der Biografien und Lebenswege der Ahninnen klärt sich für Pia ihr eigenes Leben.
Am Ende versteht Pia ihr eigenes Leben besser, basierend auf den Erfahrungen ihrer Ahninnen trifft sie eine Entscheidung
Ein Buch über die Irrungen, Wirrungen, Hoffnungen, Wünsche und Träume der Menschen. Ein Buch über verstehen, verzeihen und versöhnen. 165 Jahre lebendige deutsche Zeitgeschichte.


(Klappentext epubli)

  • Taschenbuch: 488 Seiten
  • Verlag: epubli; Auflage: 15 (30. Januar 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3741888028
  • ISBN-13: 978-3741888021














VOM WANDEL DER FRAUENROLLE IN DEN LETZTEN 165 JAHREN...



Als Pia zufällig einen TV Bericht über die Befreiung Rosstals im April 1945 durch die Amerikaner sieht, beginnt sie sich Fragen zustellen nach der Geschichte ihrer Familie und inwieweit dies Einfluss auf ihre eigene Biografie hatte. Sie stößt auf die Tagebücher und andere Dokumente ihrer Ahninnen. Es spannt sich ein Bogen von 1850 von Notburga, der Ururgroßmutter über deren Tochter Maria, die eine Suffragette war, hin zur Oma Cäcilie, die nach Paris ging, zurück kehrte, heiratete und Pias Mutter gebar. Pia reist durch den Wandel der Zeiten, Aufbruch und Niedergang, Beginn des Technologiezeitalters. Sie erfährt, die allmählich veränderte Stellung der Frau von einer rechtlosen, dem unmündigen Kindern gleichgestellten Frau hin zur emanzipierten Frau der heutigen Gesellschaft einerseits. Andererseits gibt es die individuellen Antworten der Protagonistinnen auf ihre persönliche Lage. Dieses Buch führt den Leser vom beschaulichen Franken, nach Frankreich, Norwegen und Afrika. Im Spiegel der Biografien und Lebenswege der Ahninnen klärt sich für Pia ihr eigenes Leben. Am Ende versteht Pia ihr eigenes Leben besser, basierend auf den Erfahrungen ihrer Ahninnen trifft sie eine Entscheidung Ein Buch über die Irrungen, Wirrungen, Hoffnungen, Wünsche und Träume der Menschen. Ein Buch über verstehen, verzeihen und versöhnen. 165 Jahre lebendige deutsche Zeitgeschichte.

Ganz bewusst setze ich den ausführlichen Klappentext als Kopie hier voran, weil daran bereits deutlich wird, weshalb ich mit diesem Buch solche Schwierigkeiten hatte: ausschweifend, absatzlos, voller Fehler.  Dabei könnte ich es belassen, denn tatsächlich war dieses Leseerlebnis - schwierig.

Aber ich täte der Autorin Unrecht, denn in jeder Zeile dieses eng beschriebenen, fast 500 Seiten starken Buches ist zu spüren, wie wichtig ihr die geschilderte Thematik ist. Deshalb möchte ich hier doch etwas differenzierter auf das Buch eingehen. Ich sage bewusst nicht 'Roman', denn in meinen Augen stellt dies eher eine 'Rohfassung' dar, einen 'Entwurf', der in Form, Inhalt und Struktur sowie hinsichtlich einer gründlichen Fehlersuche und eines eingängigeren Titels noch durch ein gekonntes Lektorat in eine leserliche Façon gebracht werden muss. Das Buch in der jetztigen Ausgabe stellt einfach eine Überforderung für den Leser dar.

Trotz meiner geballten Kritik glaube ich aber an das Potential des Buches sowie an die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Thematik an sich. Die Rolle der Frau im Wandel der Zeiten - so nüchtern dies auch klingt, macht das Buch anhand der Schicksale von Frauen einer Familie in einer Folge von fünf Generationen deutlich, dass der heutige Status quo der Stellung der Frau in unserer Gesellschaft zum einen nicht selbstverständlich und zum anderen auch durchaus noch ausbauwürdig ist. Darüber hinaus wird ebenso deutlich, dass das, was man ist, (mal abgesehen von der genetischen Determination) nicht unabhängig von der Geschichte einer Familie im Laufe der Generationen zu sehen ist, ebenso wie man sich den gesellschaftlichen Bedingungen nur z.T. entziehen kann. Das klingt jetzt eher nach einer sozialwissenschaftlichen Abhandlung, ist tatsächlich aber nicht so gemeint.

Neben meinem ganzen Ärger über das Buch gab es hier eben auch viele Passagen, die mich nachdenklich stimmten, teilweise Parallelen zu meinem eigenen Leben oder dem meiner Familie aufwiesen. Abgesehen also von wirklich interessanten Informationen - z.B. welche historischen Ereignisse auf welche Art dazu beitrugen, die Rolle der Frau (und des Mannes) allmählich zu verändern - kann hier auch eine persönliche Reflexion bezüglich der eigenen Situation angeregt werden. Das waren für mich wirklich positive Aspekte des Buches.

Der Austausch mit der Autorin in der Leserunde gestaltete sich sehr intensiv und, ja, auch konstruktiv. Natürlich ist es nicht nett für den Schreibenden, wenn sein Werk, in dem so offensichtlich viel Herzblut steckt, von allen Seiten viel Kritik erfährt. Doch Sybille A. Schmadalla will die im Rahmen der Leserunde geäußerten Anregungen überdenken und einiges an Änderungen in Angriff nehmen. Ich wünsche ihr ein engagiertes Lektorat, das sie in der Umsetzung der Verbesserungen unterstützt, damit das Buch zukünftige Leser einfach mehr anspricht. Denn wie gesagt: das Buch hat Potential...

Wenn ich für mich persönlich ein Fazit ziehen soll: Ich bin nicht traurig, dass ich mich seinerzeit entschlossen habe, das Buch zu lesen - aber letztlich bin ich doch froh, dass ich es jetzt 'geschafft' habe. Ich bin jedenfalls gespannt auf die Neufassung!


© Parden












Sybille A. SchmadallaBei epubli schreibt Sybille A. Schmadalla über sich selbst:

Ich wurde 1958 in Bayern geboren und wuchs auf dem Land auf.
Ich schloss zwei Studien in München erfolgreich ab und erwarb die akademischen Grade Dipl. Betriebswirtin (FH) und Diplom Designerin (FH). Nach einer klassischen Industriekarriere mit Positionen in deutschen Konzernen bis hin zur Geschäftsführung, arbeite ich heute als Business Coach und freie Autorin. Parallel zur Berufstätigkeit studierte ich noch 2 Semster Philosophie und 2 Semester Soziologie. Ich engagiere mich für Frauenrechte weltweit und unterstütze u.a. Terre des Femmes in Nürnberg. Ich bin seit mehr als 33 Jahren überaus glücklich verheiratet und Mutter zweier erwachsener Söhne. Derzeit lebe ich in Erlangen und pendle zwischen Deutschland und Finnland.

übernommen von epubli

Freitag, 26. Mai 2017

Ness, Patrick & Dowd, Siobhan: Sieben Minuten nach Mitternacht - Hörbuch



Conor ist wach, als es kommt. Genau sieben Minuten nach Mitternacht, Conor hatte einen Albtraum. Den Albtraum. Den einen, der ihn jede Nacht quält, seit seine Mutter unheilbar an Krebs erkrankt ist. Das Bild von den Händen, die ihm entglitten, versucht Conor zu verdrängen, es soll ihm nicht wieder in die Wachwelt folgen. Doch da klopft etwas an sein Fenster und ruft seinen Namen: ein Wesen, das uralt ist und wild und weise – und das wie niemand sonst Conors Seele und seine geheimsten Ängste kennt.

(Klappentext der Hörverlag)

  • Audio CD (4 CD, 4 h 36 min)
  • Verlag: der Hörverlag; Auflage: Ungekürzte Lesung (10. April 2017)
  • Sprecher: Maria Furtwängler
  • Sprache: Deutsch
  • Übersetzung: Bettina Abarbanell
  • ISBN-10: 3844523111
  • ISBN-13: 978-3844523119
  • Altersempfehlung: ab 12 Jahren









Herzlichen Dank an den Hörverlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!
der Hörverlag









VON DER MACHT DER GESCHICHTEN...



Conor ist 13 Jahre alt, und das Leben meint es zur Zeit nicht gut mit ihm. Seine Mutter ist an Krebs erkrankt, und auch wenn Conor nicht alles erfährt, so weiß er doch, dass es ihr nicht gut geht. Sein Vater hat die Familie vor Jahren verlassen und lebt jetzt mit seiner neuen Familie in Amerika. Conor möchte den Beteuerungen seiner Mutter glauben, dass es noch Hoffnung gibt, doch als sie ihm mitteilt, dass seine Großmutter für eine Weile bei ihnen wohnen wird, schwindet seine Hoffnung. Mit seiner Großmutter versteht er sich nicht, aber auch sonst hat Conor niemanden, mit dem er sich über seine Ängste austauschen kann. Und so versucht er stark zu sein und seine Mutter zu unterstützen, so sehr er es vermag.

Und als ob die Sorge um seine Mutter nicht ausreicht, um ihn zu quälen, träumt Conor auch noch schlecht. Fast jede Nacht hat er denselben Alptraum, der ihn nicht nur verstört und jedesmal schreiend hochfahren lässt, sondern ihm auch Schuldgefühle macht. Und eines Nachts um sieben Minuten nach Mitternacht klopft zu Conors großem Schreck jemand ans Fenster und ruft seinen Namen - mit eigentümlicher Stimme, einem monsterartigen Ton, wild und ungezähmt. Als der Junge vorsichtig nachschaut, wer da etwas von ihm will, erkennt er - tatsächlich ein Monster.


"Ich habe so viele Namen, wie die Zeit Jahre hat."


Doch dies ist kein Monster, vor dem Conor Angst hat - die Ängste seines Lebens sind viel größer. Uralt ist das Wesen, wild und weise, und allmählich begreift Conor, das es ihm tatsächlich nichts antun will. Aber es lässt sich auch nicht abschütteln - denn Conor hat es gerufen. Auch wenn Conor nicht versteht, was das bedeuten soll, spürt er, dass ihm das Wesen helfen will. Aber es verwirrt ihn auch. Denn was soll an dem Vorschlag hilfreich sein, dass das Monster ihm nach und nach drei Geschichten erzählen wird? Und am Ende soll Conor ihm seinerseits eine Geschichte erzählen: "Und es wird die Wahrheit sein...", fügt das Monster noch hinzu.


Conor hat genug Probleme - auch ohne das Monster. Doch es taucht auf, wann es will und besteht auf den Geschichten. Auch wenn Conor sie eigentlich nicht hören will, gerät er über die Geschichten ins Grübeln. Denn hier ist nicht die enfachste und fast unausweichlich scheinende Variante die wahrhaftigste, sondern die Erzählungen nehmen einen verwirrenden und unerwarteten Verlauf. Nichts ist, wie es scheint - und dies bereitet Conor auf seine eigene Geschichte vor, die er erzählen, von der er sich befreien soll, die ihm solche Schmerzen bereitet...

Siobhan Dowd hatte dieses Buch geplant - es gab bereits den Anfang der Geschichte, einige Protagonisten und eine grobe Vorstellung von der Handlung. Doch dann starb die Autorin an Brustkrebs, viel früher als befürchtet. Die Lektorin wollte die Idee des Buches jedoch nicht sterben lassen, und so bat sie einen anderen Autor, Patrick Ness, es zu vollenden. Und dieses gemeinsame Projekt ist gelungen.

Behutsam und einfühlsam nähert sich die Erzählung einem hochemotionalen Thema, glaubhaft sind die Gedanken und Emotionen des 13jährigen Conor, nachvollziehbar seine Reaktionen. Durch die oftmals ruppigen Auftritte des Monsters gerät die Geschichte nie in den Verdacht der Kitschigkeit oder Rührseligkeit, sondern lässt die Vorstellung zu, wie es ist, in einer solchen Situation zu stecken. Gut für Conor, dass sich das Monster als ein verlässlicher Freund entpuppt, der ihn nicht im Stich lässt - bis zum Ende. Ihn aber auch nicht schont. Neben emotionalen Momenten bietet die Erzählung auch unerwartet humorvolle Stellen, auch wenn einem das Lachen gleich darauf wieder im Halse stecken bleibt.

Maria Furtwängler liest die vollständige Lesung (4 h 36 min) auf eine angenehme und angemessene Weise, unaufgeregt aber behutsam, wirklich gekonnt. Mir hat die Lesung ausgesprochen gut gefallen.

Geeignet ist das Hörbuch ab 12 Jahren, aber auch für Erwachsene ist dies ein eindrucksvolles Hörerlebnis. In jedem Fall empfehlenswert! (Und im Mai kommt die Verfilmung ins Kino...)


 © Parden  
















Der Hörverlag schreibt über die Autoren:



Patrick NessPatrick Ness wuchs in den Vereinigten Staaten und auf Hawaii auf. Seit Ende der 90er-Jahre lebt er in London und ist dort als Literaturkritiker für die Tageszeitung The Guardian tätig. Für seine Kinder- und Jugendbücher wurde er mehrfach ausgezeichnet, er gewann unter anderem den renommierten Costa Children's Book Award und war auf der Auswahlliste für die Carnegie Medal.

Für »Sieben Minuten nach Mitternacht« erhielt er als erster Autor gleichzeitig die Carnegie Medal und den Kate Greenaway Award sowie neben unzähligen anderen Auszeichnungen den Deutschen Jugendliteraturpreis 2012.



Siobhan DowdSiobhan Dowd, in London geboren, stammte aus County Waterford, Irland, und verbrachte dort einen großen Teil ihrer Kindheit. Nach der Schulzeit in London studierte sie in Oxford und begann dort als Redakteurin für PEN International und als freischaffende Autorin zu arbeiten. Bereits ihr Debutroman kam auf die Auswahlliste des Deutschen Jugendliteraturpreises, für ihr drittes Jugendbuch wurde sie mit der Carnegie Medal ausgezeichnet. Nach schwerer Krankheit erlag Siobhan Dowd 2007 ihrem Krebsleiden.


Hier geht es zum Special zu 'Sieben Minuten nach Mitternacht'!

Donnerstag, 25. Mai 2017

Ransmayr, Christoph: Cox oder Der Lauf der Zeit



Ein farbenprächtiger Roman über einen maßlosen Kaiser von China und einen englischen Uhrmacher, über die Vergänglichkeit und das Geheimnis, dass nur das Erzählen über die Zeit triumphieren kann.

Der mächtigste Mann der Welt, Qiánlóng, Kaiser von China, lädt den englischen Automatenbauer und Uhrmacher Alister Cox an seinen Hof. Der Meister aus London soll in der Verbotenen Stadt Uhren bauen, an denen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Zeiten des Glücks, der Kindheit, der Liebe, auch von Krankheit und Sterben abzulesen sind. Schließlich verlangt Qiánlóng, der gemäß einem seiner zahllosen Titel auch alleiniger Herr über die Zeit ist, eine Uhr zur Messung der Ewigkeit. Cox weiß, dass er diesen ungeheuerlichen Auftrag nicht erfüllen kann, aber verweigert er sich dem Willen des Gottkaisers, droht ihm der Tod. Also macht er sich an die Arbeit.


(Klappentext S. Fischer Verlage)

  • Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
  • Verlag: S. FISCHER; Auflage: 8 (27. Oktober 2016)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3100829514
  • ISBN-13: 978-3100829511















DIE MESSUNG DER EWIGKEIT...




Der englische Uhrmacher Alister Cox folgt mit drei Gefährten einer Einladung des Kaisers von China, um in der Verbotenen Stadt Uhren nach den Vortellungen und Träumen eines allmächtigen Gottmenschen zu bauen. An einem Hof, der von Maßloisgkeit, zeremonieller Pracht und Angst beherrscht wird, soll der Meister aus London Uhren erschaffen, die das Verfliegen des menschlichen Lebens anzeigen - von den scheinbar endlosen Tagen eines Kindes bis zu denen eines zum Tode Verurteilten. Und schließlich fordert der Kasier ein Uhrwerk, das die Dauer der Ewigkeit messen soll...


"Ein Mann, der sich Herr der Welt, Der Erhabene, Der Allerhöchste und Herr der zehntausend Jahre und mit so vielen, unzähligen, anderen Titeln und Namen himmelhoch über den Rest der Menschheit hinausheben ließ, würde ihm einen Wunsch vortragen, den er entweder erfüllen oder an dem er scheitern - und vielleicht sterben konnte. Denn was ein Herr der Welt und Herr der Horizonte wünschte, konnte nur ein Befehl sein, der weder Zögern noch Scheitern duldete." (S. 71)


Für Alister Cox, einen der berühmtesten Uhrmacher des 18. Jahrhunderts, bedeutet die Einladung des Kaisers von China eine willkommene Gelegenheit, seinem traurigen Alltag zu entkommen. Seit dem Tod seiner kleinen, über alles geliebten Tochter Abigail und dem Verstummen seiner seither unnahbaren Frau entkommt Alister Cox den Schatten der Traurigkeit nicht mehr. Fremde, ferne Länder, dazu bislang noch unbekannte Aufträge des mächtigsten Mannes der Welt, die ihn in eine neue Arbeitswut stürzen würden, erscheinen dem Uhrmacher verlockend genug, um die Einladung anzunehmen.

Doch bereits die Ankunft nach sieben Monaten einer von Stürmen zerrissenen Seereise macht deutlich, dass in diesem Land nicht nur Milch und Honig fließen. Als Alister Cox mit seinen Gehilfen von Bord geht, werden gerade siebenundzwanzig Steuerbeamten und Wertpapierhändlern auf Befehl des Kaisers die Nasen abgeschnitten. Und die Schiffsladung voller kostbarer Geschenke lehnt Qiánlóng ab - er wolle kein Spielzeug. Nein, der Kaiser wolle ihren Kopf.


"Unseren Kopf?, hatte Cox entgeistert gefragt und gespürt, wie ein kalter Schauer über seinen Rücken lief. (...) Ja, Ihren Kopf, hatte Kiang wiederholt und sich vor dem englischen Gast verbeugt: Ihren Kopf. Ihre Erfindungsgabe, Ihr Vorstellungsvermögen, Ihre Kunst, Mühlen für den Lauf der Zeit zu erschaffen. Mühlen?, hatte Cox gefragt. Uhren, hatte der Übersetzer seinen Fehler korrigiert und beide Hände zu einer entschuldigenden Geste gehoben, Uhren, Automaten, Meßgeräte, Maschinen..." (S. 32 f.)


Běijīng ist das Ziel der Reise, und, fast unerhört, der Einzug der Europäer, dieser fremdländischen Langnasen, in die Verbotene Stadt. Dort werden die vier Uhrmacher mit den strengen Ritualen und Gesetzen der chinesischen Kultur bekannt gemacht. Eindringlich werden  die Gäste beschworen, sich an die Prämisse zu halten, nichts zu sehen oder zu hören, was nicht für ihre Augen und Ohren bestimmt ist und sich an die Gepflogenheiten des Landes zu halten. Als schließlich der Kaiser nach Alister Cox verlangt, beginnt dieser erneut zu frösteln. Was mag dieser allmächtige Herrscher von ihm wollen?

'Wie schnell die Zeit vergeht' - mit diesem Satz empfängt Qiánlóng den brühmten Uhrmacher. Profane Worte, und doch wird Cox rasch klar, welcher Wunsch sich dahinter verbirgt. Der Kaiser will, dass Cox eine Uhr fertigt, die das wechselnde Tempo der Zeit anzeigt - die Stunden, die im Liebesglück so rasch verstreichen, die mühselig in Sekunden tropfende Zeit, wenn etwas sehnlichst erwartet wird, die einschläfernde Langeweile im zähen Zeitenbrei, die Beschleunigung der Zeit mit jedem verstrichenen Jahr des Lebens. Alles vereint in einem kunsvoll arrangierten Werk. Cox meistert diese Aufgabe scheinbar mühelos, und auch der nächste Wunsch des Kaisers versetzt ihn nicht in Erschrecken: eine Uhr für Todgeweihte, für alle, die das Datum ihres Todes kennen, das Ende ihres Lebens unabweisbar kommen sehen.


"Meister Alister Cox, sagte Kiang, solle das Privileg genießen, Anschauungsmaterial für sein neues Werk im Vorhof des Todes zu sammeln, in jenem Gefängnis, in dem die verantwortungslosen Ärzte ihre Henker erwarteten. (...) Er brauche solche Besuche nicht, sagte Cox, schließlich würden auch in London Menschen gehängt, geköpft, verbrannt und ertränkt und müßten erdulden, wie die Zeit bis zu ihrer letzten Qual zerrann. (...) Cox habe etwas mißverstanden, sagte Kiang, und Mißverständnisse könnten zu jeder Lebenszeit gefährlich werden, dieser Besuch, das sei kein Vorschlag des Erhabenen gewesen, kein bloßer Wunsch, sondern sein Wille." (S. 107)


Doch der letzte Wunsch des Kaisers versetzt Cox gleichzeitig in Ekstase und in Angst. Eine Zeitlose Uhr solle der Engländer entwickeln, ein Uhrwerk, das die Ewigkeit misst, das über alle Menschenleben hinweg weiterschlägt. Schon lange träumen Cox und seine Gehilfen von solch einem Werk, dem unmöglich scheinenden Perpetuum mobile. Und nun ist es der Kaiser von China, der eben diesen Gedanken gefasst hat. Und die Uhrmacher begeben sich erneut an die Arbeit, experimentieren, verwerfen, konstruieren. Doch kann dieses Vorhaben gelingen? Und wenn - was kann daraus resultieren?


"Selbstmord! Es war Selbstmord, eine Uhr für die Ewigkeit zu bauen, eine Uhr, die ihre Stunden aus dem Inneren der Zeit in die Zeitlosigkeit schlug. Wußten die Engländer denn nicht, daß der Herr der zehntausend Jahre nicht nur über die Zeit gebot, sondern die Zeit w a r (...)? Und eine Uhr, wie die Engländer sie (...) erschaffen wollten, eine Uhr, die diesen Kaiser überragen sollte, sich über seine Tage hinaus drehte, und auch ihn am Ende als bloßen Statisten eines übergeordneten Zeitenlaufs erscheinen ließ, mußte doch wohl mit dem Anspruch verbunden sein, dauerhafter, größer zu sein als er selbst. Dauerhafter als der Herr über die Zeit, der dadurch zu einem Menschen, einem von vielen, schrumpfte. (...) Glaubten die englischen Gäste im Ernst, daß der Erhabene oder sein Hof eine solche Erniedrigung, einen solchen Frevel zulassen würden?" (S. 241 f.)


Zwei Kulturen begegnen sich hier, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Ein feiner Balanceakt zwischen Gnade und Untergang beginnt mit dem Betreten des Landes, die Abhängigkeit vom Wohlwollen des Kaisers wird mit jeder Zeile deutlicher. Frappant das Erleben der Gleichzeitigkeit der Schöngeistigkeit des Kaisers, der Gedichte schreibt, sich mit hübschen Frauen umgibt, die Natur liebt und Uhren sammelt, und der barbarischen Willkürlichkeit, der Grausamkeit auf einen einzelnen Wink hin, der Allgegenwärtigkeit von Folter und eines grausemen Todes.

Das Phänomen von Zeit und Ewigkeit schwebt durch die Zeilen des Romans, wird in allen Facetten wort- und bilderreich betrachtet. Die Personen haben historische Vorbilder, wie das Nachwort verrät (so gab es beispielsweise tatsächlich einen Uhrmacher namens Cox, dessen Werke bis heute in den Pavillons der Verbotenen Stadt in Běijīng zu sehen sind, der aber selbst nie in China war), die Handlung jedoch ist frei erfunden. Von den Uhren, die in dem Roman facettenreich und bis ins kleinste Detail beschrieben werden, hat der wahrhaftige Cox eine einzige tatsächlich erbaut - die anderen scheinen dem Geist des Autors entsprungen zu sein, und allein dafür zolle ich ihm meine Hochachtung.

Die sorgfältige Recherche Ransmayrs hinsichtlich des Hofzeremoniells und der Darstellung der Hofgesellschaft sowie der Lebensrealität der Bevölkerung ist dem Roman anzumerken. Episch ist die Erzählung angelegt, detailverliebt, minutiös, bildhaft, manchmal ein wenig langatmig. Doch wenn man sich einmal eingelassen hat auf den Schreibstil, tragen einen die geschliffenen, langverschachtelten Sätze wie im Traum durch die Geschichte. Da fallen die Handlungsarmut im Mittelteil des Romans sowie einige Wiederholungen von Gedanken über das Wesen der Zeit nicht großartig ins Gewicht.

Ein entschleunigtes Lesen bescherte mir dieser Roman, der eine ungebrochene Konzentration erfordert, um die sprachgewaltigen Sätze nachvollziehen zu können. Mehr als ein Kapitel am Stück habe ich daher nie gelesen, so dass das Werk mich einige Wochen lang begleitet hat. Doch genossen habe ich die Lektüre allemal.


© Parden















Christoph RansmayrDie S. Fischer Verlage schreiben über den Autor:

Christoph Ransmayr, wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹, ›Die letzte Welt‹, ›Morbus Kitahara‹, ›Der fliegende Berg‹ und dem ›Atlas eines ängstlichen Mannes‹ erschienen bisher zehn Spielformen des Erzählens, darunter ›Damen & Herren unter Wasser‹, ›Geständnisse eines Touristen‹, ›Der Wolfsjäger‹ und ›Gerede‹. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band ›Bericht am Feuer‹. Fu¨r seine Bu¨cher, die in mehr als dreißig Sprachen u¨bersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union, den Prix du meilleur livre étranger und den Prix Jean Monnet de Littérature Européenne. Zuletzt erschien der Roman ›Cox oder Der Lauf der Zeit‹.

übernommen von den S. Fischer Verlagen

Mittwoch, 24. Mai 2017

Amtsberg, Sven: Superbuhei



Dass Hannover-Langenhagen der Platz sein würde, den das Leben ihm zugedacht hat, hätte Jesse Bronske nicht geglaubt. Und dass die Sitzschönheit Mona die Frau an seiner Seite sein würde, ebenso wenig. Mona ist Kassiererin im »SUPERBUHEI«, wo Jesse auch die Kneipe »Klaus Meine« betreibt. Tag für Tag schenkt er trostlosen Gestalten Drinks aus, die er nach Scorpions- Songs Gin of Change oder Grog you like a hurricane genannt hat. Doch der Wunsch nach Einzigartigkeit wurde ihm zeitlebens von seinem Zwillingsbruder Aaron auf gemeine Art vereitelt. Aaron, der ihm so sehr gleicht, dass noch nicht einmal ihr Vater, Imbissbudenbesitzer und Elvis-Imitator in Hamburg-Rahlstedt, sie auseinanderhalten kann. Jesse war vor Aaron geflohen, doch als er eines Nachts vor seinem Haus eine dunkle Gestalt im Maisfeld sieht, ist er sich plötzlich sicher: Aaron ist zurückgekehrt, um ihn zu ersetzen.

(Klappentext Frankfurter Verlagsanstalt)

  • Gebundene Ausgabe: 360 Seiten
  • Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt; Auflage: 1 (7. März 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3627002342
  • ISBN-13: 978-3627002343








Ich danke der Frankfurter Verlagsanstalt ganz herzlich, dass ich dieses Buch als Rezensionsexemplar lesen durfte!







TRISTESSE IN LANGENHAGEN...



Als Sohn eines Elvis-Imitators wächst Jesse, benannt nach dem totgeboren Bruder des King, im Schatten seines Zwilligsbruders Aaron in Hamburg-Rahlstedt auf. Jesse flieht nach Langenhagen, betreibt dort die trostloseste aller Kneipen, das 'Klaus Meine', und wähnt sich in Sicherheit - bis ihn die furchtbare Ahnung beschleicht: Aaron ist in sein Leben zurückgekehrt, mit dem teuflischen Plan, ihn zu ersetzen.

Jesse und Mona. Jesse und Klaus Meine und seine Scorpions. Jesse und seine Kneipe und der Alkohol. Jesse und Kafka. Das fasst das Buch im Wesentlichen zusammen, auch wenn deswegen sicher noch niemand versteht, worum es hier eigentlich geht. Aber es deutet meine Unlust an bei dem Gedanken, zu diesem Buch noch allzu viele Worte zu verschwenden.

Selten habe ich mich nämlich derart durch ein Buch gequält. Beschreibe den Roman in drei Worten? Tristesse, Paranoia, Kafka. Und Jesse? Mittelmäßigkeit, Selbstmitleid, Alkoholsucht. Eine Mischung, die mir jedenfalls nicht sonderlich zusagte und in der ich nicht wie manch anderer Leser etwas Erfrischendes entdecken konnte. Aber nun gut. Ein paar Worte mehr sollen es noch sein...

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive Jesses, wodurch der Leser 1:1 an den Gedanken des Hauptcharakters teilhaben und dadurch knietief die beklagenswerte Gewöhnlichkeit seines Lebens durchwaten kann.

Jesse lebt mit Mona zusammen, einer Verkäuferin im Superbuhei, in einem kleinen schmuddeligen Haus am Rande eines Maisfeldes. Jesse betreibt außerdem eine kleine schmierige Kneipe, die an das Superbuhei nachträglich rangeklatscht wurde und trinkt dort mit seinen Stammkunden um die Wette, immer auf der Suche nach dem hilfreichen Pegel, der das Leben irgendwie erträglicher macht - bis zum nächsten Morgen. Jesse ist zudem ein großer Fan der Scorpions, vor allem von Klaus Meine. Und so führt er mit dem Frontman der Hardrock-Band nicht nur einen regen Briefwechsel, sondern sorgt auch dafür, dass in seiner Kneipe ausschließlich Lieder der Scorpions laufen.

Jesse ist das Kind zweier gewöhnlicher Eltern, die immer etwas Besonderes sein wollten - vor allem sein Vater. Der lief schließlich in Hamburg-Rahlstedt in seinem glitzernden Elviskostüm herum, die spärlichen Haare mit Haarspray zu einer gewagten Tolle betoniert. Die Mutter ertrug die Gewöhnlichkeit irgendwann nicht länger und verließ die Familie - genau am 16. Geburtstag der Zwillinge. Nach dem Tod des Vaters flüchtete Jesse schließlich aus dem Ort seiner Kindheit, zumal sein Bruder Aaron ihm unheimlich zu werden begann.

Doch nun scheint es, dass die Vergangenheit Jesse wieder einzuholen beginnt. Er glaubt, Aaron gesehen und Spuren seines Daseins entdeckt zu haben. Doch Alkohol und Paranoia lassen ihn und den Leser zweifeln: was ist hier eigentlich wahr? Kafkaeske Sequenzen am Rande des Maisfeldes, in dem sich so viel verstecken kann...

Es mag Leser geben, die das Verwirrspiel in trüber, alkohollastiger Stimmung mögen, wo Tristesse groß geschrieben wird und der Blick auf das Leben ein resignierter ist. Ich gehöre leider nicht dazu, und auch nicht zu denjenigen, die es reizvoll finden, wenn ausschließlich negative Aspekte präsentiert werden, egal wer oder was da gerade geschildert wird. Das offene Ende passt hervorragend, doch dieser Aspekt sowie einige Ansätze von Humor reichten letztlich nicht aus, um mich von dem Buch überzeugen zu können.

Mich konnte das Buch letztlich weder begeistern noch in den Bann ziehen, so dass ich schließlich froh war, als ich es endlich zuklappen konnte... Schade.


© Parden



















Die Frankfurter Verlagsanstalt schreibt über den Autor:

Sven Amtsberg, geboren 1972 in Hannover, lebt in Hamburg und ist Autor, Veranstalter und Moderator diverser Entertainmentformate. Er betreibt das Autorendock, eine private Autorenschule, an der Dozenten wie Juli Zeh, Clemens Meyer oder Tilman Rammstedt Seminare geben. Für das Hamburger Abendblatt schrieb er die wöchentliche Kolumne "Amtsbergs Ansichten". Zuletzt erschien sein Erzählband Paranormale Phänomene. Fast wahre Geschichten. SUPERBUHEI ist sein Romandebüt.

übernommen von der Frankfurter Verlagsanstalt

Montag, 22. Mai 2017

Rinser, Luise: Mirjam

Schauen wir doch wieder mal ein paar Jahre zurück. Zum Beispiel in das Jahr 2009. Wir, Anne und ich, hatten uns bei den Buchgesichtern gerade erst kennengelernt, TinSoldier kam etwas später dazu, und schon ging die Diskussion los. Der Lapsus maiorum kam von mir: Von Philosophinnen hätte ich noch nichts weiter gehört. Und schon belehrte mich Parden eines Besseren. Zum Beispiel wäre da Luise Rinser Mit ihrem Roman MIRJAM. Übrigens waren die Texte der Rezensionen damals noch recht kurz.


»Hier bringt eine Frau die versteinerte Männerwelt um Jesus zum Tanzen: Judas ("Jehuda") will Politik machen, Johannes ("Jochanan") grübelt ewig, Jesus ("Jeschua") heilt, und Mirjam aus Magdala, die schöne Makkabäer-Tochter, sucht sich selber und den Sinn des Lebens. Sie ist Rebellin und Getreue, Begleiterin und oft Zweifelnde, eine starke, liebende Frau. Sie harrte aus unter dem Kreuz und sah als erste Jesus nach seinem Tod. Eine Frau also von zweifelhaftem Ruf war zuerst vertraut mit dem größten Mysterium des christlichen Glaubens. "Weibergeschwätz" war die erste Reaktion der Männer, als Mirjam von dem "Auferstandenen" erzählte... Luise Rinser erweckt den Mann aus Nazareth zu neuem Leben. Mirjam erinnert abendländische Christen an ihre Jesus-Vergeßlichkeit.« Franz Alt in Die Zeit
(siehe Vorstellung in Fischer-Verlage)


Parden 27.06.2009

Mirjam - der richtige Name Maria Magdalenas, in ihrer Muttersprache Aramäisch.
Luise Rinser nennt alle Orte und Personen bei ihrem "wahren" Namen, vielleicht um von vornherein jegliches Klischee zu vermeiden. Schließlich will sie eine alte Geschichte neu erzählen, aus einer anderen Perspektive, aus der Sicht eben jener Mirjam aus Magdala. Einer Frau, die als Hure abgestempelt wurde, um zu verdrängen, was sie vor allem war: Eine Jüngerin Jesu. Leidenschaftlich und stolz, den Männern unheimlich und ein ewiges Rätsel - man ist sehr geneigt, Luise Rinser zu glauben, dass die Rolle dieser Frau heruntergespielt wurde, weil sie nicht ins Bild passte. Es ist beeindruckend, wie sie es schafft, eine andere Sicht auf die Dinge zu werfen, wie sie die ganz menschlichen Charaktere der Apostel nachzuzeichnen versteht: Johannes, der griechisch beeinflusste Philosoph, Simon Petrus und sein Kinderglaube, Judas kein Verräter, sondern ein Verzweifelter, der zum Terroristen wird. Man kennt den Ausgang der Geschichte, und doch bleibt es spannend bis zur letzten Seite. Man fühlt sich heimisch darin, alles ist nachvollziehbar, das Motiv vertraut: Junge Menschen, die die Welt verändern wollen. Vielleicht ist dieses Buch näher an der Wahrheit als alles, was sonst je darüber geschrieben wurde.

Rinser berichtigt sogar Luther: Eher geht ein Schiffstau durch ein Nadelöhr, als ein Besitzender in das Reich des Geistes, so hiess es im Orginal. Die Geschichte mit dem Kamel war ein dummer Übersetzungsfehler, der bis heute in jeder deutschen Bibel zu finden ist.

Was diese Frau sucht, sind keine vorgefertigten Wahrheiten. Das Denken laesst sie sich nicht nehmen. Und sie sucht weiter.


Auf dem Kreuzweg heute / Jerusalem



KaratekaDD 04.08.2009

Der Inhaltsangabe brauche ich schon mal nichts hinzuzufügen. Prägnant, eindeutig, klar, was den Leser erwartet.

Gut fand ich, dass die handelnden Personen als Menschen in ihrer Zeit dargestellt sind. Sie sind eben nicht die Apostel der Religion. Der Blick der Mirjam lässt sie als Menschen lebendig werden.

Allerdings fand ich es etwas seltsam, das Jeschuah und seine Mutter aus dieser Beschreibung herausgenommen wurden. Die Autorin erreicht damit sicherlich, dass der Bezug zur Religion bestehen bleibt. Ich hätte mir gewünscht, dass vielleicht die Mirakel des Jeschuha offen bleiben können, er selbst und Maria aber ebenso wie die engeren Jünger, Jesus sicherlich herausragend, als Menschen dargestellt werden.

Etwas verblüfft war ich, dass Mirjam, die Erzählerin, kurz Konstantin den Großen erwähnt. So lange, hat sie nun doch nicht gelebt...

Am interessantesten wurde Jehuda (Judas Ischarioth) dargestellt, mit seinen Zweifeln, seinen Zielen, seiner Konsequenz im Handeln...

Obwohl selbst nicht religiös, bin ich froh, das Buch gelesen zu haben.




Auf dem Kreuzweg in Jerusalem



DNB / Fischer-Verlag / 1987 / ISBN: 978-3-596-25180-3 / 336 Seiten

© KaratekaDD




Samstag, 20. Mai 2017

Gricksch, Gernot: Die denkwürdige Geschichte der


...Kirschkernspuckerbande.


Da sitzt ein gewisser Piet Lehmann, 41, bei einem jungen Schnösel von Kulturjournalisten beim NDR. Er, selbst Redakteur, ist zum Interview geladen. Sein Roman Kirschkernspucker ist das Thema. TOTAAL langweilig findet der Schnösel die Geschichte von sechs im Jahr 1960 gebornen Freunden. Gelesen hat er sie auch nicht. Er hat sich, selbst kaum dem Volontariat entwachsen, von einer Volontärin einen kurzen Überblick geben lassen.

„Er schien sich nicht vorstellen zu können, dass das Leben für Menschen über vierzig noch irgendwas bereithielt. Wahrscheinlich dachte er, alles was Männern meines Alters noch blieb, waren die alljährlichen Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchungen und sporadische Ü40-Partys, auf denen wir zu den Klängen von Status Quo und Cindy Lauper unsere arthritischen Gelenke schüttelten.
‚Doch, doch. Es geht immer weiter, das Leben‘, bekräftige ich.
‚Sicher‘, sagte Klein-Dominik. ‚So ist das wohl.‘“  (Seite 19)

All das geht Piet an seinem 50sten Geburtstag durch den Kopf. Der war 2010. Meiner war drei Jahre später. Und mir schwant, dieses Buch ist vor allem was für Leute, die noch in richtige Baumwollwindeln gesch... haben, Seifenkisten bauten, gleich alleine zur Schule gingen, und denen in den letzten Schuljahren die Benutzung von Taschenrechnern noch verboten wurde, weil nicht alle einen hatten. Also zumindest in Dresden war das um 1980 so, ob Letzteres in Hamburg ebenso war, weiß ich nicht genau. Vielleicht.



All das habe ich soeben den ersten Seiten aus DIE HELDENHAFTEN JAHRE DER KIRSCHKERNSPUCKERBANDE entnommen. Daraus folgt, es geht gar nicht um dieses Buch, sondern um DIE DENKWÜRDIGE GESCHICHTE DER KIRSCHKERNSPUCKERBANDE. Band EINS von Gernot Gricksch. Band 2 wird noch gelesen und wenn alles klappt, werden Anne und ich uns gemeinsam darüber amüsieren. Sie wird das Küken sein, denn sie ist noch mal um einiges jünger. Aber uns eint mit Piet, Petra, Bernhardt, Sven, Susann und Dilbert: Wir sind alle im siebenten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren und haben alle noch in Baumwollwindeln... usw.

* * *

»Als die sinnlose Rede vorbei ist, treten wir ans Grab. Den Kübel mit Sand ignorieren wir. Wir werden unseren Freund nicht mit Dreck bewerfen. Stattdessen legen wir alle gleichzeitig, als hätten wir es wochenlang geübt, den Kopf zurück. Und dann spucken wir in hohem Bogen unsere Kirschkerne in das Grab. Der Pastor funkelt uns wütend an. Doch was weiß der schon.« (Seite 7)

Wer da in das Loch auf dem Friedhof in Ohlsdorf heruntergelassen wurde, ist nicht klar, nur soviel, einer von sechs wird es schon gewesen sein. Wenn im Epilog diese Szene wiederholt wird, hat man schon einen leicht verschleierten Blick, denn während man meist lachen musste bei der Lektüre, hier ist die Geschichte so was von traurig, da darf man schon mal ein Tränchen verdrücken. Im Übrigen zeigt Piet Lehmann, der Erzähler ja des Öfteren, dass Mann auch mal heulen darf. Ohne heulen hätte er seine bessere Hälfte nicht, verraten, ob die nun Petra, Susann oder ganz anders heißt, wird hier nicht.

Sven ist der Erste, den Piet kennenlernt. Sozusagen im Laufstall. Bei einer Art Ghostbuster-Spiel kommt ein neuer Junge dazu. Petra. „‚Petra?‘, rief ich entsetzt. ‚Du bist´n Mädchen??‘ ‚Ja.‘ Petra funkelte mich wütend an. ‚Aber ich bin stärker als du!‘ Ich sagte lieber nichts mehr. Wahre Führer wissen, wann es klüger st, einen temporären Rückzug anzutreten.“ (Seite 23) Und dann trennen sich Svens Eltern, es wird dauern, bis die Leser den Grund dafür erfahren.

1966 gab es Schultüten. Und zu dem Trio stoßen der stille Bernhardt und der Rüpel Dilbert hinzu. Bernhardt sitzt neben Piet, Dilbert gehört auch in diese Klasse. Sven hat eine Banknachbarin namens Susann. Und um das mal richtig zu erklären, was den Unterschied von Petra und Susann ausmacht und warum sich neben ein Mädchen zu setzen eine große Dummheit ist, gebe ich mal folgende Erklärung. „Wenn Mädchen so waren wie Petra – permanent schmutzig, mit aufgeschlagenen Knien und einer Rauferei nie abgeneigt – , dann konnte man vielleicht mal eine Ausnahme machen, aber so ein richtiges Mädchen, eins mit Zöpfen, mit einem Kleid!“ (Seite 36)

Bernhard dagegen: „W-wollt ihr Sch-schokolade?“ – Ach, Bernhard. Der ist der Schlaukopf. Total belesen, Geografie-As würden wir sagen. Besitzer zweier Alkoholiker-Eltern. Stotternd, schüchtern, außer in dieser nun kompletten Clique, die auch in der Schule vollständig wird, nachdem Petra es geschafft hatte, von ihrer Mädchenschule zu fliegen. Piet, Sven, Petra, Bernhard, Susann und Dilbert.

Überspringen wir mal ein paar Jahre. 1972, da wird die Rasselbande zwölf. Petra hat den Dilbert des öfteren im Schwitzkasten und Piet hat Susann´s beginnende Brüste wohl zu lange angeschaut. Und „Susann bemerkte alles, was ich tat“.

„Ich lag also da, zwölf Jahre alt und dachte an Susanns Lippen und an ihre Minibrust... Und da war sie dann: Meine erste Erektion. Halleluja! Ohne dass es mir jemand erklärt hätte, fand ich sehr schnell heraus, wie man so eine Erektion wieder loswird.“ (Seite 71)

* * *

Überspringen wir erneut ein paar Jahre und auch die Phase, in der Dilbert meint: „So viele Weiber! So wenig Zeit!“ – Überspringen wir überhaupt den ganzen Rest, der nur spoilerhaft wirken würde und kommen wir mal zu einem Fazit:

Da lese ich nun einen „Wessi-Roman“ und finde mich doch wieder. Nicht unbedingt in Hamburg-Altona-Reeperbahn und LSD-WG, auch nicht an der Startbahn-West und in Brokdorf, als deren Vertreter besagter Piet seine kurzen Ausführungen dazu bringt. Ich will da mal was ganz Profanes erwähnen: Cat Stevens - Morning has brocken. Was verbindet Ost und West damit, wenn man zwischen 1960 und ein paar Jahren später geboren ist? Natürlich: Den Engtanz. Den in der Klassendisko. Näher kam man ja in einem bestimmten Alter an die Busen der Mädchen nicht heran. Aber jetzt gleite ich schon wieder zurück in die pubertären Erinnerungen. Dabei wird doch dieses Buch zunehmend ernst und nicht erst, als die Freunde (teilweise) Eltern werden.

Übrigens war es wohltuend, nichts, aber auch gar nichts zum Thema Ost/West zu lesen. Keine Tante, kein Onkel, keine Carepakete und Ostreisen. Ein einziges Mal die Erwähnung der Geschehnisse von 1989.

Für Anne Parden „war das wie eine Reise durch meine eigene Kindheit und mein Leben. Ereignisse, die ich längst verdrängt hatte, politische Bewegungen, besondere Augenblicke kamen wieder zum Vorschein, Gegenstände, Ausdrücke, Mode und Musik im Wechsel der Jahre - ein herrliches Wiedertreffen!“ wie sie in ihrer Rezension schrieb.

Oder auch ganz kurz bei Droemer-Knaur: „Frischt Kindheitserinnerungen auf, herrlich unpathetisch und unsentimental, und doch auf ganz eigene Art berührend. Tolles Buch!“



Geht mir genauso, auch wenn ich mir, ähnlich der nebenstehenden Jahrgangsbücher auch eine Ost-Variante der Kirschkernspuckerbande vorstellen könnte. Aber schade ist letztendlich nur, dass ich diesen denkwürdigen Roman einer denkwürdigen Gruppe fast Gleichaltriger nicht schon eher in die Hände bekam, denn Gernot Gricksch schrieb den bereits 2001.

Die eingangs erwähnte Fortsetzung, also „unsere“ heldenhaften Jahre, erschien „erst“ 2013. Nun ist die Geschichte schon etwas ernsthafter, darüber wird noch zu schreiben sein.

PS: Bei Droemer-Knaur steht, Gernot Gricksch ist einer der meistverfilmten deutschen Autoren. Das war mir bisher ebenso wenig bekannt, wie seine beiden Romane über die Kirschkernspuckerbande. Aber das wird nicht so bleiben.




► Die denkwürdige Geschichte... DNB / Droemer-Knaur / München 2001 /
     ISBN: 978-3-426-61892-9 / 320 Seiten /
► Die heldenhaften Jahre... DNB / Droemer-Knaur / München 2013 / ISBN: 978-3-426-51065-0 /          313 Seiten
► Gernot Gricksch bei Droemer-Knaur
► Gernot Gricksch in der DNB

© KaratekaDD



Freitag, 19. Mai 2017

FotoPost: Frühling


Frühlingsbilder einmal anders. Aus Holland und aus Mecklenburg-Vorpommern. 






Zwei Serien völlig unterschiedlicher Art. 



Detail und weites Feld. Nähe und Weite. Beides hat seinen Reiz - die Vollkommenheit der Details  einer einzelnen Blüte und das fast unwirkliche Leuchten der Tulpenfelder in Noordholland. Ein Augenschmaus...




Nicht nur die Bäume blühen. Ganze Kunstwerke aus kleinen Blüten entstehen jährlich bei den Bloemendagen in Anna Paulowna. 10000 Hyazinthenblüten auf einen Quadratmeter - man ahnt, welche Mühe hinter solch gigantischen Bildern wie beispielsweise diesem der ehemaligen niederländischen Königin steckt. Ein Wettbewerb, der dort in Noordholland jährlich ausgetragen wird... Auf dem rechten Bild ist zwar keine Königin zu sehen -  es ist eine Wespe - aber wen erinnert die Bestäuberin nicht an Königinnen?




Auf der Halbinsel Marken am Ijseelmeer findet sich an jeder Ecke ein lohnendes Fotomotiv - vor allem im Frühling. Ein farbenfrohes Stilleben wie dieses hier beispielsweise. Auf der rechten Seite erneut die Bestäubung der Blüten - ohne derlei Insekten gäbe es kein Obst mehr...




Pastell und Farbexplosion




Die Pflanzen auf dem linken Bild wurden von Menschenhand bestäubt. Kunst und Natur. Solch ein eleganter Anflug einer Hummel ist nur durch ein Makroobjektiv fassbar. Wie auch auf dem nächsten Bild links.




Nicht nur bei den Pflanzen hat der Frühling Einzug gehalten... Bei diesen Bildern ist der Gedanke an die 'weiße Unschuld' nicht weit...





 Viele Blüten links und rechts. Eine Wohltat fürs Auge...


© Anne Parden & KaratekaDD



Montag, 15. Mai 2017

Frank, Astrid: Enno Anders - Löwenzahn im Asphalt


Die Heizung knackt, der Banknachbar schnieft: Wie kann man da einen Aufsatz schreiben? Und wenn man sich gerade vorstellt, eine Ameise zu sein – wie soll man da antworten? Enno nimmt tausend Kleinigkeiten wahr, kann sich in jedes Lebewesen hineinfühlen und sich ausgeklügelte Geschichten ausdenken, die auf anderen Planeten spielen. Nur eines kann er nicht: so sein wie die anderen …

(Klappentext Urachhaus Verlag)

  • Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
  • Verlag: Urachhaus; Auflage: 1 (8. März 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • Illustration: Regina Kehn
  • ISBN-10: 3825151220
  • ISBN-13: 978-3825151225
  • Vom Hersteller empfohlenes Alter: 9 - 11 Jahre












WENN ALLES FALSCH LÄUFT...



Enno Anders ist genau dies: anders. Er bekommt alles mit und kann sich dann auf das Wesentliche nicht mehr konzentrieren, fällt in der Schule ständig auf und auch zu Hause passieren ihm laufend kleine Ungeschicklichkeiten. Enno hat mit seinen elf Jahren so gut wie keine Freunde - nur den hochbegabten Olsen, der bereits zweimal eine Klasse übersprungen hat und ebenso ein Außenseiter ist wie Enno. Aber Fantasie hat Enno, mehr als genug - und einfühlsam ist er wie kein zweiter. Er weiß genau, wann jemand die Wahrheit sagt und wann nicht, und er spürt, wie es anderen Menschen geht.


"Ich scheine irgendwie auf einem fremden Planeten gelandet zu sein. Die Lebewesen hier sehen zwar genauso aus wie ich, aber sie ticken alle anders. Ich kenne die Regeln nicht, nach denen das Zusammenleben hier funktioniert. Und egal, wie viel Mühe ich mir gebe, ich mache doch nur alles falsch."


Enno ist nicht dumm. Er merkt, dass er anders ist als die anderen. Er selbst könnte damit leben, doch seine Mama macht das traurig. Sie macht sich Sorgen darum, was aus Enno einmal werden soll und reagiert oft hilflos, manchmal auch verärgert auf seine Besonderheit. Mama versteht nicht, was mit ihm los ist - sie möchte, dass ihr Sohn einfach normal ist so wie andere Kinder. Und merkt dabei nicht, wie weh sie Enno damit tut. Enno flüchtet oft in seinen Briefwechsel mit seinem Opi, der allerdings vor drei Jahren gestorben ist. Aber auf Mamojusave, dem Planten, wo Enno sicherlich eigentlich herkommt, wartet Opi geduldig auf seinen Enkel, bis dessen Mission auf der Erde beendet sein wird.


"Es ist merkwürdig, aber ich weiß, dass meine Mama mich lieb hat. Trotzdem hätte sie mich offenbar gerne anders, als ich bin. Und wenn ich wüsste, wie das geht, dann würde ich alles dafür tun, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Aber leider weiß ich es nicht (...) Vielleicht wäre es für alle einfacher, wenn ich nicht mehr da wäre..."



Astrid Frank, die offenbar selbst ein hypersensibles Kind hat, schreibt mit einer schonungslosen Offenheit und gleichzeitig mit einer enormen Einfühlsamkeit sowohl über die Erlebnsiwelt von Enno als auch über die Reaktion der oft hilflosen Mutter. Dabei wächst beim Lesen das Verständnis für beide Seiten, wobei das Herz eindeutig für Enno schlägt. Von augenzwinkernd bis berührend bedient die Autorin dabei gekonnt die Klaviatur der Gefühle. Und schafft das Verständnis für die einfache Tatsache: anders zu sein ist nicht schlimm.

Illustriert wurde das Buch stimmungsvoll und passend von Regina Kehn.

Ein Buch, das ich gerne weiterempfehle - für Kinder, die den Wert der Toleranz erkennen sollen, für Eltern, die das größte Gut in der Normalität sehen und für alle, die mit Kindern zu tun haben und dabei den neugierigen und wohlwollenden Blick auf das Besondere in jedem von ihnen nicht verlieren wollen. Positiv, berührend, ermutigend.


© Parden













Der Urachhaus Verlag schreibt über die Autorin:

Astrid Frank, geboren 1966, studierte Biologie, Germanistik und Pädagogik und arbeitete bereits während des Studiums als Lektorin und Übersetzerin für mehrere deutsche Verlage.

Seit 1999 schreibt sie Geschichten für Kinder und Jugendliche.

übernommen vom Urachhaus Verlag



Freitag, 12. Mai 2017

Neudecker, Christiane: Das siamesische Klavier


Schatten, die sich von einem selbst lösen. Kinderspiele, die zu tödlichen Geisterbeschwörungen werden. Eine verhängnisvolle Begegnung mit einem Erlkönig der Neuzeit. Ein Schachspiel mit einem Toten. Sportsgegner, die sich einfach nicht besiegen lassen wollen – oder zu sehr ... Neudecker erzählt mit hypnotischer Spannungskunst von dem winzigen Spalt, der sich von Zeit zu Zeit in unserer modernen, nur scheinbar rationalen Welt auftut.

(Klappentext btb Verlag)

  • Taschenbuch: 224 Seiten
  • Verlag: btb Verlag (12. März 2012)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3442743311
  • ISBN-13: 978-3442743315









UNHEIMLICHE GESCHICHTEN...



Christiane Neudeckers Geschichten versetzen das Genre der unheimlichen Erzählung von E.T.A. Hoffmann bis Daphne du Maurier in unser hoch technisiertes Dasein, in unsere vermeintlich entzauberte Welt. Abgründig, verstörend intensiv und auf heimtückisch unaufdringliche Weise beunruhigend. Diese Geschichten wirken lange nach...

Sieben Geschichten mit vollkommen unterschiedlichen Grundthemen erwarten den Leser hier, doch Christiane Neudecker hat sich in die jeweilige Thematik intensiv hineingearbeitet. So ist es ihr gelungen, den einzelnen Erzählungen eine glaubwürdige Authentizität zu verleihen und sie gleichzeitig von einer beunruhigenden Atmosphäre durchdringen zu lassen.

In 'Das siamesische Klavier', das diesem Buch seinen Titel verlieh, wird im tiefsten Urwald ein seltsames Doppelklavier gefunden. Da alle Versuche, es zu transportieren, scheitern, wird an Ort und Stelle ein Konzerthaus gebaut. Mit Liszts Bearbeitung von Beethovens 9. Symphonie soll es glorios eröffnet werden - dass man aber an Klavier und Musik besser nicht gerührt hätte, zeigt sich erst, als es längst zu spät ist.

'Gerufene Geister oder: Der Carpenter-Effekt' beschäftigt sich mit einer Gruppe junger Mädchen, die sich mit Gläserrücken die Zeit vertreiben und eine Katastrophe herauf beschwören. "Wann sie damit anfingen, die Toten zu rufen, weiß im Nachhinein niemand so genau. Es bgann doch als harmlose Feizeit auf dem Hof, aber dann wurden die Spiele der Kinder immer beängstigender. Bis zu jener Nacht, von der sich die, die sie überlebten, bis heute noch nicht erholt haben."

Ein Boxer kämpft in 'Ein Geräusch, so hässlich, so ein hässliches Geräusch' gegen einen teuflisch guten Gegner. Als dem Gegner mit dem engelhaften Gesicht Maden aus dem Mund zu quellen beginnen, weiß der Freefighter nicht mehr, was er glauben soll. Ist seine Siegesgewissheit gerechtfertigt?

'Dunkelkeime' weist nahezu kafkaeske Züge auf. Hier wird ein Mann zunächst von seiner Freundin verlassen und zieht anschließend in deren Landwohnung. Dort schlüpft er - ohne es selbst zu merken - zuerst in deren Leben und dann ganz unmerklich und immer mehr in deren Körper. Am Ende zweifelt der Leser ernsthaft, was wahr ist und was nicht.

'J'adoube' - Ich berichtige. Ein Ausdruck aus der Welt des Schachs, und hierum dreht es sich in dieser Geschichte. Um eine Partie, die nicht real sein kann. Weil eine junge Frau online von ihrem vor einigen Monaten verstorbenen Freund zu einer Schachpartie herausgefordert wird. Einbildung? Oder was?

Frostig wird es in 'Der Erlkönigjäger'. Nahe dem Polarkreis testen viele Autokonzerne ihre streng geheimen Erlkönige - und ein Fotograf kommt ihnen seit Jahren immer wieder auf die Schliche. Doch plötzlich wird er in Eis und Schnee selbst zum Gejagten...

'Wo viel Licht ist' gleitet schließlich wieder sehr ins Surreale ab. Ein Softwarekünstler gerät in seinem Spiel um Licht und Schatten an die Grenzen der Realität. Sein Schatten stockt, bewegt sich nicht mehr kongruent zu ihm - und schließlich beginnt eine verstörende Verwandlung.

Nicht jede der außergewöhnlichen Geschichten konnte mich gleichermaßen begeistern, aber in allen zeigt sich das sprachliche und stilistische Feingefühl der Autorin. Die Erzählungen sind keine Gruselschocker, keine Horrorstorys - und doch verstören sie durch die dunkle Atmospähre und die Verzerrung der Realität.

Nach dieser Lektüre möchte ich jedenfalls noch weitere Bücher der Autorin lesen.


© Parden
















Christiane NeudeckerDer btb Verlag schreibt über die Autorin:

Christiane Neudecker, geb. 1974, studierte Theaterregie an der "Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch" und lebt als freie Schriftstellerin, Librettistin und Regisseurin in Berlin. 2005 erschien ihr begeistert aufgenommenes Erzähldebüt "In der Stille ein Klang", 2008 ihr erster Roman "Nirgendwo sonst", 2010 "Das siamesische Klavier - Unheimliche Geschichten". Sie wurde für ihr Schreiben mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Für den 2013 erschienenen Roman "Boxenstopp" erhielt sie das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds, die 2015 erschienene "Sommernovelle" war NDR Buch des Monats. Seit 2001 arbeitet sie mit dem Künstlernetzwerk phase7 zusammen. Die Deutsche Oper Berlin eröffnete 2013 mit Neudeckers Libretto zu "Himmelsmechanik - eine Entortung" ihre Spielzeit.

übernommen vom btb Verlag