Samstag, 20. Mai 2017

Gricksch, Gernot: Die denkwürdige Geschichte der


...Kirschkernspuckerbande.


Da sitzt ein gewisser Piet Lehmann, 41, bei einem jungen Schnösel von Kulturjournalisten beim NDR. Er, selbst Redakteur, ist zum Interview geladen. Sein Roman Kirschkernspucker ist das Thema. TOTAAL langweilig findet der Schnösel die Geschichte von sechs im Jahr 1960 gebornen Freunden. Gelesen hat er sie auch nicht. Er hat sich, selbst kaum dem Volontariat entwachsen, von einer Volontärin einen kurzen Überblick geben lassen.

„Er schien sich nicht vorstellen zu können, dass das Leben für Menschen über vierzig noch irgendwas bereithielt. Wahrscheinlich dachte er, alles was Männern meines Alters noch blieb, waren die alljährlichen Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchungen und sporadische Ü40-Partys, auf denen wir zu den Klängen von Status Quo und Cindy Lauper unsere arthritischen Gelenke schüttelten.
‚Doch, doch. Es geht immer weiter, das Leben‘, bekräftige ich.
‚Sicher‘, sagte Klein-Dominik. ‚So ist das wohl.‘“  (Seite 19)

All das geht Piet an seinem 50sten Geburtstag durch den Kopf. Der war 2010. Meiner war drei Jahre später. Und mir schwant, dieses Buch ist vor allem was für Leute, die noch in richtige Baumwollwindeln gesch... haben, Seifenkisten bauten, gleich alleine zur Schule gingen, und denen in den letzten Schuljahren die Benutzung von Taschenrechnern noch verboten wurde, weil nicht alle einen hatten. Also zumindest in Dresden war das um 1980 so, ob Letzteres in Hamburg ebenso war, weiß ich nicht genau. Vielleicht.



All das habe ich soeben den ersten Seiten aus DIE HELDENHAFTEN JAHRE DER KIRSCHKERNSPUCKERBANDE entnommen. Daraus folgt, es geht gar nicht um dieses Buch, sondern um DIE DENKWÜRDIGE GESCHICHTE DER KIRSCHKERNSPUCKERBANDE. Band EINS von Gernot Gricksch. Band 2 wird noch gelesen und wenn alles klappt, werden Anne und ich uns gemeinsam darüber amüsieren. Sie wird das Küken sein, denn sie ist noch mal um einiges jünger. Aber uns eint mit Piet, Petra, Bernhardt, Sven, Susann und Dilbert: Wir sind alle im siebenten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren und haben alle noch in Baumwollwindeln... usw.

* * *

»Als die sinnlose Rede vorbei ist, treten wir ans Grab. Den Kübel mit Sand ignorieren wir. Wir werden unseren Freund nicht mit Dreck bewerfen. Stattdessen legen wir alle gleichzeitig, als hätten wir es wochenlang geübt, den Kopf zurück. Und dann spucken wir in hohem Bogen unsere Kirschkerne in das Grab. Der Pastor funkelt uns wütend an. Doch was weiß der schon.« (Seite 7)

Wer da in das Loch auf dem Friedhof in Ohlsdorf heruntergelassen wurde, ist nicht klar, nur soviel, einer von sechs wird es schon gewesen sein. Wenn im Epilog diese Szene wiederholt wird, hat man schon einen leicht verschleierten Blick, denn während man meist lachen musste bei der Lektüre, hier ist die Geschichte so was von traurig, da darf man schon mal ein Tränchen verdrücken. Im Übrigen zeigt Piet Lehmann, der Erzähler ja des Öfteren, dass Mann auch mal heulen darf. Ohne heulen hätte er seine bessere Hälfte nicht, verraten, ob die nun Petra, Susann oder ganz anders heißt, wird hier nicht.

Sven ist der Erste, den Piet kennenlernt. Sozusagen im Laufstall. Bei einer Art Ghostbuster-Spiel kommt ein neuer Junge dazu. Petra. „‚Petra?‘, rief ich entsetzt. ‚Du bist´n Mädchen??‘ ‚Ja.‘ Petra funkelte mich wütend an. ‚Aber ich bin stärker als du!‘ Ich sagte lieber nichts mehr. Wahre Führer wissen, wann es klüger st, einen temporären Rückzug anzutreten.“ (Seite 23) Und dann trennen sich Svens Eltern, es wird dauern, bis die Leser den Grund dafür erfahren.

1966 gab es Schultüten. Und zu dem Trio stoßen der stille Bernhardt und der Rüpel Dilbert hinzu. Bernhardt sitzt neben Piet, Dilbert gehört auch in diese Klasse. Sven hat eine Banknachbarin namens Susann. Und um das mal richtig zu erklären, was den Unterschied von Petra und Susann ausmacht und warum sich neben ein Mädchen zu setzen eine große Dummheit ist, gebe ich mal folgende Erklärung. „Wenn Mädchen so waren wie Petra – permanent schmutzig, mit aufgeschlagenen Knien und einer Rauferei nie abgeneigt – , dann konnte man vielleicht mal eine Ausnahme machen, aber so ein richtiges Mädchen, eins mit Zöpfen, mit einem Kleid!“ (Seite 36)

Bernhard dagegen: „W-wollt ihr Sch-schokolade?“ – Ach, Bernhard. Der ist der Schlaukopf. Total belesen, Geografie-As würden wir sagen. Besitzer zweier Alkoholiker-Eltern. Stotternd, schüchtern, außer in dieser nun kompletten Clique, die auch in der Schule vollständig wird, nachdem Petra es geschafft hatte, von ihrer Mädchenschule zu fliegen. Piet, Sven, Petra, Bernhard, Susann und Dilbert.

Überspringen wir mal ein paar Jahre. 1972, da wird die Rasselbande zwölf. Petra hat den Dilbert des öfteren im Schwitzkasten und Piet hat Susann´s beginnende Brüste wohl zu lange angeschaut. Und „Susann bemerkte alles, was ich tat“.

„Ich lag also da, zwölf Jahre alt und dachte an Susanns Lippen und an ihre Minibrust... Und da war sie dann: Meine erste Erektion. Halleluja! Ohne dass es mir jemand erklärt hätte, fand ich sehr schnell heraus, wie man so eine Erektion wieder loswird.“ (Seite 71)

* * *

Überspringen wir erneut ein paar Jahre und auch die Phase, in der Dilbert meint: „So viele Weiber! So wenig Zeit!“ – Überspringen wir überhaupt den ganzen Rest, der nur spoilerhaft wirken würde und kommen wir mal zu einem Fazit:

Da lese ich nun einen „Wessi-Roman“ und finde mich doch wieder. Nicht unbedingt in Hamburg-Altona-Reeperbahn und LSD-WG, auch nicht an der Startbahn-West und in Brokdorf, als deren Vertreter besagter Piet seine kurzen Ausführungen dazu bringt. Ich will da mal was ganz Profanes erwähnen: Cat Stevens - Morning has brocken. Was verbindet Ost und West damit, wenn man zwischen 1960 und ein paar Jahren später geboren ist? Natürlich: Den Engtanz. Den in der Klassendisko. Näher kam man ja in einem bestimmten Alter an die Busen der Mädchen nicht heran. Aber jetzt gleite ich schon wieder zurück in die pubertären Erinnerungen. Dabei wird doch dieses Buch zunehmend ernst und nicht erst, als die Freunde (teilweise) Eltern werden.

Übrigens war es wohltuend, nichts, aber auch gar nichts zum Thema Ost/West zu lesen. Keine Tante, kein Onkel, keine Carepakete und Ostreisen. Ein einziges Mal die Erwähnung der Geschehnisse von 1989.

Für Anne Parden „war das wie eine Reise durch meine eigene Kindheit und mein Leben. Ereignisse, die ich längst verdrängt hatte, politische Bewegungen, besondere Augenblicke kamen wieder zum Vorschein, Gegenstände, Ausdrücke, Mode und Musik im Wechsel der Jahre - ein herrliches Wiedertreffen!“ wie sie in ihrer Rezension schrieb.

Oder auch ganz kurz bei Droemer-Knaur: „Frischt Kindheitserinnerungen auf, herrlich unpathetisch und unsentimental, und doch auf ganz eigene Art berührend. Tolles Buch!“



Geht mir genauso, auch wenn ich mir, ähnlich der nebenstehenden Jahrgangsbücher auch eine Ost-Variante der Kirschkernspuckerbande vorstellen könnte. Aber schade ist letztendlich nur, dass ich diesen denkwürdigen Roman einer denkwürdigen Gruppe fast Gleichaltriger nicht schon eher in die Hände bekam, denn Gernot Gricksch schrieb den bereits 2001.

Die eingangs erwähnte Fortsetzung, also „unsere“ heldenhaften Jahre, erschien „erst“ 2013. Nun ist die Geschichte schon etwas ernsthafter, darüber wird noch zu schreiben sein.

PS: Bei Droemer-Knaur steht, Gernot Gricksch ist einer der meistverfilmten deutschen Autoren. Das war mir bisher ebenso wenig bekannt, wie seine beiden Romane über die Kirschkernspuckerbande. Aber das wird nicht so bleiben.




► Die denkwürdige Geschichte... DNB / Droemer-Knaur / München 2001 /
     ISBN: 978-3-426-61892-9 / 320 Seiten /
► Die heldenhaften Jahre... DNB / Droemer-Knaur / München 2013 / ISBN: 978-3-426-51065-0 /          313 Seiten
► Gernot Gricksch bei Droemer-Knaur
► Gernot Gricksch in der DNB

© KaratekaDD



3 Kommentare:

  1. Eine ganz tolle Buchbesprechung zu einem Roman, den ich jetzt gleich am liebsten sofort noch einmal lesen würde... Aber erst einmal Band zwei, gell? ;)

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    1. Das ist schön mal gut, dass sie dir gefällt. Ich bin nämlich nicht ganz zufrieden.

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    2. Komisch, dass dieser Post so wenig Leser fand. Aber so etwas bleibt wohl des Bloggers Rätsel auf ewig.

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